Kommentar
In dem nahezu textlose Band des Armeearztes und Anatomen am Hôpital d'Instruction du Val-de-Grâce, demonstrierte Jean-Galbert Salvage (* Saint-Flour 1772 - † 1813) auf den Tafeln das ganze Dilemma der Proportionslehren.
Gerade auf den Tafeln, auf denen das Skelettgerüst der antiken Statue nachvollzogen wird, ist keine Proportionalteilung eingetragen. Versucht man nun von der Tafel XIX aus eine Konstruktionsanalogie zu ermitteln, scheitert das sofort an der scheinbar willkürlichen Positionierung der Teilungslinien: Skelett und proportionale Teilung haben nichts miteinander zu tun. Was Martinez > 1689 zu demonstrieren sich bemüht hatte, gilt hier nicht.
Der von Condillac 1754 beschriebene virtuelle Blick in das Innere einer Statue vollzieht zwar die ebenso virtuellen, konstruktiven Schritte - Wahl der Proportion, der Stellung, des Charakters, Wahl des expressiven Ausdrucks - des entwerfenden Malers/Bildhauers nach, wie sie seit Alberti an den Akademien gelehrt wurden. Übertragen aber läßt sich diese Einsicht in dem einen Medium nicht auf das andere. Es klafft eine Lücke von Anschaulichkeit zwischen den Schritten dieses Prozesses und dem Endprodukt.
Nur zum Teil läßt sich die Differenz zwischen Salvage und Martinez aus dem Unterschied im Teilungssystem (KL versus GL) begreifen (siehe Planche 19). Denn nicht Natur steht bei Salvage zur Debatte, sondern ein kulturspezifisches Konstrukt: das Idealbild des erwachsenen, jungen Mannes. Diese Entscheidung ist ebenso willkürlich, wie apodiktisch in ihrem Behauptungscharakter. Er versucht noch wissenschaftliche Wahrheit - Osteologie, Anatomie und Perspektive - und künstlerische Wahrscheinlichkeit als miteinander vereinbar unter Beweis zu stellen.
Die künstlerische Wahrheit aber bewegt sich doch bereits auf eigenen Wegen ihrer Entscheidungen. So verzichtet Salvage auf jede erläuternde Angaben zur Proportionierung von Frau und Kind ebenso wie bei seiner Mannsgestalt und es bleibt dem Leser überlassen von dieser aus auf die des borghesischen Fechters zurückzuschließen.
Bibliographie
Titel:
»Anatomie du Gladiateur Combattent, applicable aux Beaux Arts. Traité des os, des muscles, du mécanisme des mouvemens, des proportions et dés caractères du corps humain. Ouvrage orné de 22 planches, par Jean-Galbert Salvage, docteur en medecine de la faculté de Montpellier.« A Paris, Chez L′Auteur, Cul-De-Sac Saint-Dominique D′Enfer, No 6. De L′Imprimerie De Mame. M. DCCCXII.
- Vortitelblatt, I Blatt
Cet ouvrage, I Blatt
Aux Manes, Frontispiz, Titelblatt, S. I - S. IV
Anatomie Introduction, S. 1 - S. 34
Anatomie, S. 35 - S. 52
De la Statique du Corps Humanin, S. 53 - S. 55
Des Proportions du Corps Humain., S. 56 - S. 61
Des Caractères propres aux diverses races d′hommes., I Blatt
Errata, S. 63 - S. 64
Table des matieres., Planche 1 - 22.
Literatur: Gerlach 1990, S. 17, 32, 36, 131, 135, 138, 146, 205*, 219, 225, 228, 232, 237.
Exemplar: National Library of Medicine, in Bethesda, Maryland
› digital; Privatbesitz.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 06.2019.