Kommentar
Johann Daniel († 1737) und sein Sohn Johann Justin (*4.12.1698 Nürnberg - † 18.2.1771 Nürnberg) Preißler schufen als Direktoren der von Joachim von Sandrart (* 1606 - † 1688) gegründeten Nürnberger Akademie ab > 1721 innerhalb weniger Jahre ein umfassendes, systematisch gegliedertes Lehrbuch in vier Teilen für den Grundunterricht in bildender Kunst, also für das Einüben des Figuren- und Landschaftszeichnens.
Zu den erforderlichen Elementarkenntnissen und -fertigkeiten, die sich der junge Künstler aneignen solle, gehörten die genaue Kenntnis der menschlichen Proportion. Nur deren differenzierte Beherrschung befähige ihn späterhin die Differenzen in der Darstellung unterschiedlichen Geschlechts, Alters und Charakters angemessen leisten zu können.
Nach der herrschenden Temperamentenlehre - als der medizintheoretischen Basis zum Verständnis des Verhältnisses von Leib und Seele - ist der individuelle Charakter abhängig von den Mischungsverhältnissen der für das Temperament verantwortlichen Säfte. Das proportionale Verhältnis dieser Mischung bestimme zugleich auch seine äußere Gestalt. Insofern war die Kenntnis von der Proportion des Äußeren zugleich eine vorauszusetzende Kenntnis bei der angemessenen Gestaltung von unterschiedlichen Charakteren.
Von besonderem Interesse ist nun die im 4. Teil zum ersten Male nach dem Tode Johann Daniels abgedruckte geometrische Konstruktionsanweisung des jüngeren Johann Justin Preisslers, die eine lineare Zunahme der Größe durch das Wachstum unterstellt. In diesem Blatt sind diejenigen Altersstufen nebeneinandergestellt, die in der herkömmlichen Ikonographie eine besondere Rolle spielten. Vom Putto - dem etwa zweijährigen Kind - bis zum Vollausgewachsenen - etwa 24 jährigen Mann - kann der Zeichner so jede beliebige Zwischenstufe abmessend herausgreifen. Daß wir es dabei noch nicht mit der erst im XIX. Jahrhundert entdeckten Wachstumskurve zu tun haben, lehrt deren gradliniger Anstieg.
Bedeutsam indessen ist an diesem Konstrukt, daß auch Altersstufen, die bis dahin recht selten als Themen in der bildenden Kunst vorkamen - wie beispielsweise bestimmte Stufen des jugendlich Heranwachsenden -, mit Leichtigkeit aus diesem Schema heraus in ihren Ausmaßen bestimmbar wurden. Das macht diese Publikation zu einem raren Fall der zeitgenössischen Kunstliteratur.
Die Auflagen waren zahlreiche. Der Bedarf war vorhanden, der Inhalt erschien noch angemessen differenziert. Noch 1843 wurde eine vollständige Ausgabe aller vier Teile in Nürnberg wieder aufgelegt - die letzte mir nachweisbare.
Bibliographie
Titel:
»Fortsetzung der durch Theorie erfundenen Practic. Oder Gründlich=verfasste Reguln derer man sich als einer Anleitung zu berühmter Künstlere Zeichen=Wercken bestens bedienen kan. Vierter Theil. Herausgegeben von Johann Justin Preißler, der allhiesigen Kunstmahler=Academie Directore, auch bey dessen Erben zu finden, in Nürnberg.« Mit 18 Kupfertafeln. Neueste, durchaus umgearbeitete Ausgabe. Erster Nachtrag zu Preißlers Originalzeichnungen bestehend in sechs größeren Akademischen Figuren. Nürnberg, Gedruckt bey Michael Joseph Schmid, Anno 1789.
- Titelblatt, Blatt I - VI
An die Lehr=Begierigen der Edlen Zeichen=Kunst., numm., unsignierte Tafel 1 - 18.
Literatur: Ulrich Thieme - Felix Becker (Hg.), »Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler.« Bd. 27, 1933, S. 373 - 374; Karl Bosl, "Preißler, Johann Justin." In: »Bayerische Biographie.« Regensburg 1983, S. 601; Gerlach 1990, S. 183 f*.
Exemplar: Heidelberg, Univ. Bibliothek:
› Bd. 4, 1789 digital; Privatbesitz.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 06.2019.