Kommentar
In dieser Schrift des Kunstliebhabers, Sammlers und Schriftstellers Claude-Henri
Watelet (*1718 - † 1786 Paris) stoßen wir auf alle diejenigen Begriffe, die die akademische Diskussion um die Sinnhaltigkeit von Differenzen in der Proportionierung von unterschiedlichen Gestalten in Malerei und Bildhauerei seit Albertis Zeiten bestimmt haben. Er legt ein knappen Resümee vor.
Unterschiede bedingen: Geschlecht, Stand, Rang, glückliche Lebensumstände, Klima, Temperament, Sitten - wie z.B. Ausartung in Hauptstädten. Letztlich aber bleibt er bei vier Typen: der edel männliche Charakter des Mannes, der biegsam zarte der Frau, die Ungewißheit der Gestalt des Kindes und der leichte svelte Charakter des Jugendlichen. In den allgemeineren umschreibenden Angaben finden sich letztlich soziale Trivialitäten einer ständischen Gesellschaft unter absolutistischen Vorzeichen wieder.
Dringlich empfiehlt er das vorgängige Studium der Osteologie und Myologie, um vor allem die Veränderungen durch Bewegung und Emotionen begreifend wahrzunehmen. Daß ihm antike Vorbilder unumgänglich erschienen, zeigt einmal mehr, wie konventionell Watelets Ratschläge ausgefallen sind. Dennoch ist der frühaufklärerische Duktus gerade in der auf wissendes Sehen insistierenden Argumentation deutlich. Seine zeitliche Modernität indessen wird erst recht deutlich, wenn er gegen Ende seiner Thesen immer wieder auf die Wahrnehmung durch den potentiellen Betrachter verweist. Dies ist zwar knapp, aber eben doch ein neues, im XVII. Jahrhundert noch nirgends aufscheinendes Argument.
Bibliographie
Titel: »Des Herrn Watelet, Ehrenmitgliedes der königl. Academie der Malerey und Bildhauerkunst, Kunst zu malen; ein Gedicht in vier Gesängen. Nebst desselben Betrachtungen über die verschiedenen Theile der Malerey, und des Herrn Pernety practischen Abhandlung von den verschiedenen Arten der Malerey. Aus dem Französischen übersetzt [von J. August Lehninger].« [Paris 1760] Leipzig, in Lankischens Buchhandlung, 1763.
- Titel, II Blätter Vorbericht, Zwischentitel, S. 3 Die Kunst zu malen, ein Gedicht. Erster Gesang. Die Zeichnung. - 56 Ende des vierten Gesanges., Zwischentitel Betrachtungen über die verschiedenen Theile der Malerey, zur Erörterung des Gedichts: die Kunst zu malen., S. 59 Vorbericht.- 300 Von den verschiedenen Arten &c / „. . . womit man nicht gänzlich zufrieden ist.“
Literatur: Anonym, "Watelet, Claude Henri." In: Ulrich Thieme - Felix Becker, »Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler.« Bd. 35, 1942, S. 179; Gerlach 1990, S. 28, 31, 92, 119, 121, 129, 147, 149, 150, 151, 185*, 203, 211, 233; Anonym, "Watelet, Claude-Henri." In: »The Dictionnary of Art.« Vol. 32, 1996, S. 897 - 898 (nennt diese Übersetzung nicht).
Exemplar: München, Bayer. Staatsbibliothek > digital; Privatbesitz.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 06.2019.