Kommentar
Baldinuccis Mitteilungen in diesem in Florenz am 1. Dezember 1669 als Brief an Lorenzo Salviati abbildungslos angelegten Text eines Proportionssystems kennt vier modi. Er weist sie indessen selber nicht als solche aus. Seine Umschreibungen ("imperfetti/rusticali/goffe - meglior/ma non arriva al più bello - è quella della quale si sono serviti per ordinario i più eccellenti artefici - un altezza molto grande) klingen nachgerade unbeholfen deskriptiv. Keinerlei systematische Analogien lassen sich aus dieser Wortwahl herauslesen. Jede Gruppe verweist allenfalls wieder auf einen anderen Ähnlichkeitsbezug. Hieraus läßt sich entnehmen daß die von Poussin in den 40er Jahren entwickelte Theorie von 3 modi noch nicht der ältere Vergleich mit der architektonischen Säulenordnung ihm nicht mehr geläufig oder angemessen erschienen sein dürfte.
Die Länge des Gesichts als Modul zu wählen erweckt den Anschein einer gewissen Exklusivität ist doch dieser Modul weitaus seltener in der Literatur anzutreffen als die seit Vitruv gängigere Kopflänge.
Von überraschender Aktualität erscheint dagegen seine Festlegung der Körpermitte auf die Schambeinfuge. Der Nabel als Zentrum des Kosmos mit seiner gewichtige Symbolkraft bis weit ins XVII. Jahrhundert hinein scheint spur- und klaglos außer Kurs geraten. Der nur noch innerweltlich begründete Gravitationsschwerpunkt des menschlichen Körpers naturwissenschaftlich und anschaulich unter Beweis gestellt ist die neue Mitte gleichsam die alte Lingam-Phallus Symbolik (Zentrum des Lebens der Lebens- und Zeugungskraft) unter der Hand mit sich ziehend.
Allenthalben schwärt eine latente sexuelle Konnotation: Die Unterteilung der Gesichtslänge in drei Nasen(längen) die Genitalregion als Zentrum. Sublimiert wird diese Konnotation indessen in dem hehren Jargon des jeweils gängigen Kunstdiskurses nicht einmal im gewählten Vokabular wird unterschwellig diese optisch so augenscheinliche Assoziation anklingen lassen.
Sig. Filippo Baldinucci (*1625 - † 10.01.1696 Florenz) studierte Bildhauerei Malerei und Kupferstich in seiner Geburtsstadt. Ab 1665 wurde er gesuchter Berater für Sammlungen von Zeichnungen (Uffizien) und selber Sammler (heute: Louvre). Wenig später schrieb er Künstlerbiographien und verfasste Fachbücher zur Kunsttechnik.
Der Herausgeber dieses Briefes von Baldinucci - Gaetano Poggiali, Sammler von Mss. - hat seit 1786 noch weitere 21 Bücher verfasst. U.a. Satiren und 1815 einen Beitrag zum Vocabulario der Accademia della Crusca: »Serie de'testi di lingua stampati: che si citano nel Vocabolario degli accademici della Crusca / posseduta da Gaetano Poggiali. Con una copiosa giunta d'opere di scrittori di purgata favella, le quali si propongono per essere spogliate ad accrescimento dello stesso Vocabolario.«
Bibliographie
Titel: »Lettera di Filippo Baldinucci Intorno al modo di dar Proporzione alle Figure in Pittura e Scultura ec. Ora per la prima volta pubblicata. Nella quale dice il suo parere [...].« [1669] Livorno Co' Tipi Bodoniani 1802. Presso Tommaso Masi e Compagno.
- Ms. aus dem Besitz des Canonico Domenico Moreni von Gaetano Poggiali ( 1753 - 1814), dem Kupferstecher Raffaelle Morghen gewidmet.
- Titelblatt, VII Blatt All′Illustrissomo Signore, Titelblatt, Text S. 9 - 20.
Literatur: S. Samek Ludovici "Baldinucci Filippo." In: »Biographia degli Italiani.« vol. 5 1963 S. 495 - 498; Gerlach 1990 S. 199 f*; A. Matteoli "Baldinucci Filippo." In: »Allgemeines Künstlerlexikon.« Bd. 6 1992 S. 425 - 426 (1802).
Exemplar: 1802: Getty Research Institute › digital.
© wp.Gerlach 12.12.1999 revidiert 06.2019.