Ein Bildnis von Karl Otten (*29.07.1889 Oberkrüchten - † 20.03.1963 Muralto, Italien) soll dieses Bildnis eines Dichters darstellen (Backes 1981, S. 164), das zum frühen Werk Hoerles zählt, bevor er seine konstruktivistischen Bildnisse malte.
Schwierig nachzuvollziehen ist mir die Benennung „der Dichter“, weil die hier Porträtierte unschwer an den langen blonden, in zwei durchaus modischer Frisur entsprechenden Locken auf ihrer rechten Kopfseite als Frau auszumachen ist.
Es war ein Experiment, kurz nachdem Hoerle von seiner Einberufung zum Telefonisten bei der Artillerie zurückgekehrt war. Hoerle, der als „Zyniker und satirisches Genie“ (Schmitt-Rost) galt, nutzte kubistische Stilmittel, um mit körperlichen Deformationen psychisch-individuell Spezifisches darzustellen. Belegbar ist diese Absicht vor allem in seiner Graphik seit ca. 1917 (Heusinger 1979).
Die Verwendung karikaturistischer Strategien wurde bereits Picasso im ersten Jahrzehnt nachgesagt, scheint also eines derjenigen Merkmale der Kunst des frühen XX. Jahrhunderts zu sein, das nicht nur Malern dazu verhalf die Regeln der akademischen Kunsttradition zu verlassen und Ausdrucksformen für die menschliche Gestalt zu gewinnen, die Individualität markieren halfen.
Individualität wurde somit zunehmend als Abweichung vom klassischen Ideal (dem aristotelischen „schöner als die Natur“) zu ergreifen versucht. Nur war der Ausweg nicht mehr der Naturalismus des XIX. Jahrhunderts (dem mittleren Modus, dem aristotelischen „wie die Natur“), sondern die Experimente gingen hin zum dritten, niederen Modus, dem „schlechter als die Natur“.
Für dieses Experiment diente Hoerle die Disproportionierung von Armen und Händen gleichermaßen wie die kubistische Geometrisierung des Kopfes in der Art, wie Picasso es 1907 mit den Demoiselles d'Avignon exemplarisch vorgeführt hatte.
č W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 08.2019.