Georg Simmels kurzer Aufsatz im Kunstblatt der Wiener
Neuen Freien Presse aus dem Jahre 1905 kann als wichtiger Beitrag zur kunsttheoretischen Debatte der jungen Moderne des XX. Jahrhunderts gelesen werden.
Seine Argumentation, daß die künstlerische Gestaltung nur dann als gelungen bezeichnet werden kann, wenn sie überzeugt, nimmt einen Faden auf, der in der als Rezeptionsästhetik bezeichneten Diskussion in England im XVIII. Jahrhundert begonnen hatte.
Er wendet sie nunmehr speziell auf das Bildnis an, das für ihn nicht in erster Linie Ähnlichkeit aufzuweisen hat, sondern "Erscheinung" zum Gegenstand der Darstellung hat. Diese Wende im Argument räumt die uns heute selbstverständlich dünkende Subjektivität der künstlerischen Sichtweise ins Zentrum der Beurteilunsgkriterien. Der Künstler konstruiert mit seiner Komposition die Zeichen, die die Erscheinung der Person für den Betrachter zu einem Symbolgefüge von deren charakterlicher und psychischer Verfassung werden lassen.
Diesen Abstraktionsprozess des Künstlers kann der Betrachter nun seinerseits wieder auf die Person zurückverfolgen, die er persönlich oder häufiger auch nur medial vermittelt kennt. Zurecht nennt Simmel diesen doppelten Rückbezug den „Psychologischen Realismus“, ein Begriff, der sich indessen nicht weiter durchgesetzt hat. Die Gründe dafür sind naheliegend.
Zu sehr ist bis heute die Anschauung und alltägliche Erfahrung der meisten - auch mit Kunst vertrauten - Menschen von der scheinbaren Mühelosigkeit und Eindeutigkeit der Getreulichkeit und Ähnlichkeit der Fotografie geprägt, als daß sie sich darüber Rechenschaft ablegen wollten, daß sie selber sehr sorgfältig bei der Auswahl derjenigen Fotos sind, die sie von sich selbst oder auch von anderen als gelungen gelten lassen. Doch diese eigene Praxis gegenüber Kunst auch gelten zu lassen, davon lassen sie sich bis heute nur schwer überzeugen.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 08.2019.