Heller legte bsi 1902 eine umfangreiche Sammlung solcher im Gipsrelief ausgeführten Ausdrucksstudien an, die aufwendig mit öffentlichen Mittel publiziert wurde.
Da er eine Professur für Anatomie an der Wiener Kunst-Akademie innehatte, ist naheliegend, daß diese Gipsreliefs für Unterrichtszwecke gedacht waren. Somit können wir diesen mimischen Formen exemplarischen Charakter zusprechen. Dabei sind zwei Aspekte gerade im Vergleich zu der von Charles Le Brun (› 1668) geprägten Tradition aufschlussreich:
1. Welche Auswahl von denkbaren Gefühlsausdrücken wurde bevorzugt?
2. Welcher verbale Aufwand mußte betrieben werden, um die einzelnen Fälle hinreichend genau zu benennen?
Allein schon die Zahl von 50 Tafeln mit je einer Darstellung eines mimischen Ausdrucks läßt deutlich werden, was sich gegenüber der Zeit Le Bruns verändert hat: die Anzahl!
Kam Le Brun noch mit 28 Darstellungen aus (aufgeteilt in 12 einfache und 16 gemischte Affekte), so hatte sich hier um die Jahrhundertwende - und nicht nur bei ihm - die Zahl der für erforderlich gehaltenen, dem bildenden Künstler unentbehrlichen mimischen Ausdrucksformen nahezu verdoppelt. In der Tat geben die durch Kommata getrennten Adjektive der Untertitel zu erkennen, daß es sich um Ausdrucksformen von sogenannten gemischten Gefühlen handelt, z.B. “Der vorwiegend bittere Zug mit dem schwach verbissenen und dem der Verstimmung (Kampf mit heftigem Schmerz).„
Das aber heißt mit anderen Worten: Um die Jahrhundertwende tauchte zunehmend die Erfordernis auf, neben den traditionellen oppositionell lesbaren Grundformen (wie z.B. Lachen - Weinen, Freude - Trauer) eine ständig wachsende Anzahl von gefühlsmäßigen Nuancen namhaft zu machen, die sich der Zuordnung klarer, einfacher Oppositionen entzogen. Hatten Photographie und Film die wahrnehmende Aufmerksamkeit geschärft oder war das ein Ergebnis der größeren Dichte und Nähe der städtischen bürgerlichen Gesellschaft?
Die Zahl der Ausdrucksvarianten ließ sich je nach Aufgabenstellung an den bildenden Künstler beliebig erweitern, ohne daß sich dafür ein vereinfachendes bildliches oder gar sprachliches Klassifikationsraster anbot. Diese Einsicht war indessen zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 50 Jahre alt.
An der Pariser Akademie waren bereits um 1820 Überlegungen angestellt worden für die künstlerische Darstellung von Affekten und Leidenschaften nicht mehr länger anatomisch-wissenschaftliche Kriterien - wie sie Heller berufsbedingt anlegen mußte - gelten zu lassen, sondern ausschließlich Ästhetische. Entscheidend wurde also, ob eine Darstellung für den Betrachter überzeugend lesbar war oder nicht. Vergleicht man nun gar Hellers Darstellungen etwa mit Gemälden Picassos aus dem gleichen Jahr 1902, der sogen. Blauen Periode, dann wird deutlich, daß Heller einem klassizistischen Ideal anhing. Dieses kam im XX. Jh. erst wieder in den 20er Jahren in der Malerei der Neuen Sachlichkeit zur Geltung, wurde aber alsbald sowohl vom Surrealismus, als auch erst recht von allen expressionistischen Richtungen nach dem 2. Weltkrieg gerade im Anschluß an die moderne Malerei der Jahrhundertwende (Matisse, Munch) aufgelöst. Die Einsicht nicht nur in die Wandelbarkeit des mimischen Ausdrucks, sondern vor allem in die unendliche, je doppeldeutige Variabilität menschlichen Ausdrucksvermögens hatte sich nicht nur bei bildenden Künstlern, sondern hat sich zwischenzeitlich schließlich auch bei Anatomen herumgesprochen.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 08.2019.