„Die Keimesgeschichte ist ein Auszug der Stammesgeschichte; oder mit anderen Worten: Die Ontogenese ist eine kurze Recapitulation der Phylogenie.“
Dieser Satz von Ernst Haeckel ist unter dem Begriff der Rekapitulationstheorie als biogenetisches Grundgesetz zuerst 1866 veröffentlicht worden. Wie schon Darwins Abstammungslehre hat auch diese Rekapitulationstheorie heftige Debatten ausgelöst, und zwar bei Gegner ebenso wie bei Befürwortern und gehört heute noch zu den allgemein anerkannten Einsichten der Biologie, wie auch der Zoologie und Anthropologie.
Für viele Künstler war das ein aufmunternder Gedanke. Sie versuchten in ihrer Psyche auf der Spurensuche nach Erinnerungen an eine solche Vergangenheit sich in den Stand der durch Zivilisation und Erziehung verschütteter kindlicher, natürlicher Unschuld zurückzuversetzen. Besonders von einigen französischen (Gaugin, Rousseau) und vielen deutschen expressionistischen bilden Künstlern wurde dieses Argument zum heimlichen oder offenkundigen Leitmotiv ihrer Darstellungen idyllischer oder exotischer Szenerien (u.a. Otto Mueller, Otto Dix, Paul Klee).
Zu den verdächtigsten Befürwortern seinerzeit gehörte Lombroso. Dessen Hauptthese lautete folgendermaßen: Kriminalität sei eine Folge biologischer Vorbestimmtheit, der Kriminelle sei ein entwicklungsgeschichtlicher RÜckfall in Phasen der Frühzeit (was auf ein juristisches Argument gegen die Schuldfähigkeit hinauslief, aber viel schlimmere Folgen wurden daraus abgeleitet). Das nannte er Atavismus. Der atavistische Mensch sei vergleichbar mit "Wilden" und Kindern, die er als "Bestien und Monster im Stande der Unschuld", als Vertreter von Urformen der Menschheit, gemäß der Rekapitulations-Theorie von Haeckel bezeichnete. Als Indikatoren benannte er Teile der Körperoberfläche, besonders aber Tätowierungen und die Formen des Schädels. Eine unrühmliche Beliebheit hatten Lombrosos und Haeckels Thesen dann unter den Nationalsozialisten, denn sie zogen die Konsequenz aus der Schuldunfähigkeit: die so gebrandmarkten wurden getötet!
Längst davor hatten viele Forscher Lombrosos These ihrerseits als atavistisch eingestuft.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert o8.2019.