Piderits Kritik der Physiognomik ist in zwei Teile unterteilt. Er beginnt mit einem Bericht über den Stand der Forschung zur Anatomie und Physiologie der Gesichtsteile (Auge, Nase, Mund und Stirn) unter dem Begriff der Mimik, der „stummen Sprache des Geistes“ (S. 1 - 109).
Dabei spielen Lage und Funktion der Nerven für die Übermittlung der Sinneseindrücke eine wichtige Rolle in den Darlegungen seiner Trennung von Geisteshirn, dem „Centralorgan aller Sinnesorgane“ ( S. 21) und Seelenhirn.
Der zweite Teil ist der Physiognomik der gleichen Teile des Kopfes gewidmet (S. 111 - 200).
Beides zusammen hatte er bereits zuvor in »Grundsätze der Mimik und Physiognomik.« Braunschweig 1858, behandelt, indessen knapper und mit schlechteren Illustrationen.
Bemerkenswert bleibt, daß er sich völlig auf das Gesicht konzentriert, Gestalt und Bewegungen des Körpers oder Gesten werden von ihm nicht behandelt. Darin sind seine Darlegungen denen von › Le Brun und › Lavater durchaus vergleichbar.
Wohl nicht von ungefähr bevorzugt er wie diese für seine Illustrationen die einfache Umrißzeichnung. Anders als diese indessen ist sein Verfahren: Er beschreibt äußerlich am Gesicht wahrnehmbare Veränderungen, die zu Folgerungen auf dazugehörige Gemütszustände Anlaß geben. Weder Temperament noch Charakter werden als Unterscheidungskennzeichen in Erwägung gezogen, allerdings als Momente der Konditionierung ebenso, wie berufliche Tätigkeiten, körperliche Verfassung, Leiden oder Krankheiten (S. 154 ff). Der Blick von Außen bringt ihn zu seinen vergleichend-abwägenden Bestimmungen einer physiognomischen Prägungen, die er durchweg als erworbene Merkmale erfaßt: „... ein physiognomischer Ausdruck ist .. ein habituell gewordener mimischer Ausdruck.“ (S. 149).
Folgerichtig trägt er insgesamt eine Analyse ausgewachsener Menschen vor. Mit Kindern oder Heranwachsenden, gar mit Vergleichen mit dem von Darwin › 1874 vorgetragenen tierischen Erbe menschlicher Mimik beschäftigt er sich an keiner Stelle. Ebenso lehnt er die auf › Gall fußende Phrenologie grundsätzlich ab, da „Physiognomische Merkmale ... nur an den Theilen (zu) suchen (sind), welche unter dem Einflusse der Geistesthätigkeit stehn.“ (S. 148), also den Muskeln des Gesichts.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 08.2019.