Der Mediziner
Guillaume Benjamin Armand Duchenne praktizierte als Neurologe nach seinem Studium in Paris zunächst ab 1831 in Boulogne-sur-Mer, dann ab 1842 in Paris.
Er beschäftigte sich seit 1831 mit der Pathologie des Nervensystems, besonders der Muskelathropie. Seine elektrotherapeutischen Forschungen kulminieren in einem Werk, das den ersten Versuch einer Art Robotik (Magli 1995) des mimischen Gesichtsausdrucks vorstellt. Er ging von der Überzeugung aus, daß der Ausdruck der unterschiedlichen Gemütszustände jeweils nur durch höchstens zwei oder drei Muskeln des Gesichts zustande komme. Dies sei eine von Gott geschaffene universal lesbare Sprache, deren Orthographie er zu entziffern trachtete. Kulturelle Einwirkungen durch Erziehung und Gesellschaft regulieren nur deren Entfaltung oder Dämpfung.
Zum Nachweis dieser Ursprachen-These erfaßte er erstmals die Muskelbewegungen als durch elektrische Impulse an den Nerven gesteuert, wie es Luigi Galvani fast hundert Jahre zuvor, 1789, mit seinem Froschschenkel-Experiment demonstriert hatte. Vier Modelle nutzte er für sein Experiment. Einen älteren Insassen einer psychiatrischen Anstalt und seinen Schwiegersohn, von dessen mimischer Begabung er angetan war und den er zugleich als schönes Gegenbild zu dem zahnlosen Alten einsetzte. Die beiden anderen waren ein elfjähriges Mädchen und eine erwachsene Frau. An dieser Frau versuchte er vor allem Ausdrucksformen religiöser Inbrunst vorzuführen.
Seine Position knüpfte an Lichtenbergs Insistieren auf der kommunikativen Bedeutung der flüchtigen Mimik gegenüber der charakterkundlichen Auslegung der festen Teile des Kopfes an, die nach Camper in der Anthropologie weiterverfolgt wurde. Die Reduktion auf wenige elementare Konstellationen der Gesichtsteile hatte Superville 1827 zur graphischen Schematisierung universeller Ausdrucksgestalten geführt. Piderit (› 1867, S. 7) kritisierte an diesem Ansatz, daß durch die lediglich äußeren Reizungen nichts über den Zusammenhang zwischen gewissen Geisteszuständen und den Bewegungen einzelner Gesichtsmuskeln aufgeklärt wäre. Darüber schweigt sich Duchenne in der Tat in seinem kaum theoretisch, eher christlich-fundamentalistisch orientierten Text aus. Ihm kam es offensichtlich lediglich auf den jederzeit verifizierbaren Nachweis an, daß durch die externe Reizung einzelner Muskeln immer nur ein bestimmter Ausdruck moduliert würde. Die damit naheliegende Folgerung auf eine instinktive oder reflexhafte Erscheinung der Mimik versuchte nach ihm Darwin dann durch seinen Tier-Kinder-Vergleich phylogenetisch zu belegen. Das ist bis heute in der Ausdrucksforschung (Ekman 1972) eine umstritten diskutierte Frage, obwohl man inzwischen längst nicht mehr die Auffassung teilt, daß diese pathognomische Physiognomik zu einer universelle Wissenschaft entfaltet werden könne, wie Superville und wohl auch Duchenne - neben vielen anderen - annahmen.
Ein unstreitiges Verdienst bleibt indessen die Einführung des damals recht neue Mediums der Photographie für die wissenschaftliche Dokumentation und Beweisführung. Daß er dabei das bereits seit vielen Jahren besonders auch bei bildenden Künstlern wache Interesse für physisch Kranke teilte und bei der Auswahl seiner vier Modelle wiederum einem kunsttheoretisch traditionellem Kanon folgte, macht einsichtig, daß auch im XIX. Jahrhundert bildende Kunst und neueste wissenschaftliche Richtungen kaum unabhängig von einander zu denken sind.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 08.2019.