Prod. Dr.med. Emil Harleß ist durch die Publikation einer »Plastischen Anatomie für akademische Anstalten und zum Selbstunterricht.« bekannt geworden.
Sie erschien 1858 in Stuttgart. Zuvor jedoch hatte er seine in den Wintern 1848 bis 1850 vor einem Kreis hauptsächlich von Künstlern gehaltenen freien Vorträge veröffentlicht.
Der hier interessierende „Cyclus“ von Vorlesungen wendet sich den „leiblichen Aeußerungen unserer eigenen geistigen Vorgänge“ zu. Harleß (1851) beginnt mit einer harschen Kritik an der Gall'schen Lokalisationslehre, ja der Phrenologie insgesamt.
Seine allgemeinen Überlegungen sind an einem traditionellen Affekte-Modell (Lust-Harmonie-Unlust) orientiert, das auf eine ebenso traditionelle vierteilige Temperamentenlehre hinauslaufen. Als Ausdrucksformen von Affekten oder Leidenschaften, die er schon selbstverständlich als „Gefühle“ zusammenfasst, benennt er: Sprache, Gesten und Mienen. Zur physiologischen Erklärung des Verhältnisses von innerer Regung und äußerer Erscheinung verweist er auf die wichtige Funktion der Nervenbahnen.
Er demonstrierte mit galvanischen Reizungen an einem Froschpräparat deren Funktion, ohne indessen über den bedingenden neuronalen Mechanismus etwas aussagen zu können, den schon 1803 Révéroni Saint-Cyr aus vermeintlichen Bewegungen von galvanischen Flüssigkeiten im Körper zu erklären versucht hatte.
Wie es sich für ein medizinisches Kompendium schickt beschäftigt Harleß sich im folgenden Teil des Buches mit dem anatomischen Aufbau des Auges und Ohres nach dem Kenntnisstand der Zeit. Die entsprechenden Holzstiche belegen das auf den ersten Blick. Dieser Teil nun ist gespickt mit recht aktuellen Berichten über den Stand der experimentellen Wahrnehmungsphysiologie und -psychologie, mit zahlreich eingestreuten Testfiguren und Skizzen zu Testsituationen. Diese muten jedoch bei seinen hin und wieder gestellten Fragen - z.B. wie denn der Blick Leidenschaft und Gefühl offenbare - sehr distanziert und eher nüchtern an. Hier bringt die Wendung der Frage nach der Leistung des Auges ihn wieder ins Fahrwasser einer positivistischen Fach-Argumentation.
Die nachfolgenden optisch-mechanischen und farbphysiologischen Erläuterungen bleiben bei mechanistischen Erklärungsmustern, die hoher Aktualität nicht entbehren.
© W.P.Gerlach 12.12.1999, revidiert 08.2019.