Die »Cefalogia« des
Cornelio Ghirardelli ist eine jener „natürlichen“, von einem Mediziner verfaßten Physiognomiken, wie sie seit der Mitte des XVI. Jh. immer häufiger betitelt wurden. Damit setzten sich deren Autoren von astrologischen und sonstigen mantischen Aspekten ab, um nicht der Zensur der katholischen Kirche anheim zu fallen.
Ghirardellis Werk ist ein Kompendium, in dem die Positionen seit Aristoteles referiert und kommentiert werden. Der in den umseitigen Abbildungen gezeigte Teil bezieht sich auf das wichtigste Werk des XVI. Jhds.: della Portas › »Physionomia naturale«. Die Illustrationen allerdings sind neueren Datums und keineswegs mit denen bei della Porta vergleichbar. Vielmehr variieren sie ein Schema, das am Beginn des XVI. Jhds. schon bei › Indagine zuerst vorzufinden ist.
Waren diese ersten Illustrationen einer Physiognomik noch fast ausschließlich aufs Profil ausgerichtet, wird nunmehr die zeitgenössische Darstellungskonvention der Portraitmalerei genutzt. Die Bildnisse sind leicht aus dem Profil gedreht und schauen den Betrachter an. Diese Verlebendigung steht im Kontext einer neuen optischen Ausrichtung bei der Beobachtung des Menschen von außen, dem kontrollierenden Blick auf das gesellschaftliche Gegenüber, der auch alltäglicher von analytischem Interesse bestimmt wurde.
Magli (1995, S. 255) führt dieses Werk als eines derjenigen Beispiele an, an denen sich der Weg zu einer optisch orientierten Theorie der Passionen belegen läßt, die für das XVII. Jh. bezeichnend wurde. Am Lebendigen (Biologischen) wurde auch immer das Ethische vermittelt gesehen, was schon bei Galen in »Quod animi mores« formuliert worden war. Mediziner wie Ghirardelli, und Baldi, Niquet oder Bayle sehen zunehmend ihre Aufgabe auch darin, vom medizinischen Standpunkt aus Ratschläge für die alltägliche, moralisch gefestigte Lebensführung zu geben. Dazu bedienen sie sich u.a. auch der Physiognomik als diagnostischem und therapeutischem Instrument. Sie tragen damit zu dem gesamten Prozess bei, der als Prozess der Zivilisation in die moderne Wissenschaft eingegangen ist. In diesem Prozess ging es um Etappen der zunehmend öffentlich regulierten Körperbeherrschung, bis hin zu Instrumentarien der Auswahl von Personen für bestimmte Funktionen in der Gesellschaft. Damit sind wir am Beginn dessen, was im XX. Jh. zunächst mit Hilfe der Phrenologie, dann der Graphologie und schließlich heute mit dem IQ-Test in jedem Betrieb praktiziert wird.