Selbstbildnisse und Selbstinszenierung bildender Künstler in den Jahren zwischen 1900 und 1920



Seitdem durch Fotos zeitgenössische Bildnisse von Künstlern überliefert sind, läßt sich die Weise ihrer Selbstinszenierung sehr viel differenzierter untersuchen, als es für die Zeiten davor möglich erscheint.

Vincent van Gogh wähle ich als erstes Beispiel. Er gilt seiner Biographie, seiner Selbstinszenierung und der biographistischen Stilisierung nach als der Prototyp des überzeugt-leidenden, des asketisch-erfolglosen, des verzweifelt-tätigen Künstlers am Beginn der Moderne. In den beiden 1888 entstandenen Bildnissen in Laren und Cambridge erscheint zweimal die gleiche Person, in fast identischer Haltung im gleichen Jahr.1 Hier erkennen wir auf Anhieb jenes Pathos des Häßlichen, das gerne als die ungeschönte, schonungslose Wahrhaftigkeit angepriesen wird, unser Mitleid erheischend. Das Kreatürlich-Gequälte, sich Quälende wird zu einer Pathosformel des Künstlerbildes des beginnenden 20. Jahrhunderts.

Als 19jähriger ist uns das Aussehen von van Gogh durch ein Foto (um 1872) bekannt mit einer rundlichen Kopfform und rundlichem Gesicht. Er sah sich selber härter konturiert, wie alle seine Selbstbildnisse bezeugen, mit einem kantigen Schädel, dessen dünne Haut immer wieder die knöchernen Teile seines Schädels hervortreten läßt. Ernst, hager, kränkelnd, mit einem Wort >melancholisch< im Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts, müßten wir seine Selbstbildnisse bezeichnen. Und das könnten wir mit gutem Grund auch weiterhin so halten, wird doch das melancholische Temperament geradezu das standardisierte Leitbild des europäischen Künstlers des 19. Jahrhunderts, eine Variante des jugendlichen Bohemien, als der nach innen blickende, an der Gesellschaft leidende, schöpferische Mensch schlechthin, das künstlerische Genie, das aber an seinem Leidensdruck nicht zugrunde geht, sondern gegen den Widerstand seiner Zeitgenossen beachtliche Kunstwerke der Nachwelt hinterläßt.2

Man sollte glauben, Munch3 wäre ein solcher prototypisch Leidend-Verkannter: Er aber sah sich frisch und rundlich als 23jähriger (Selbstbildnis 1886, Oslo), ernst-gefaßt mit 53 (Selbstbildnis 1916, Oslo) und gelassen-ruhig mit 63 (Selbstbildnis 1926, Oslo). Er stellte sich in frühen wie in späteren Jahren selber auch so vor. Jedenfalls nichts Kantig-Hageres ist in seinen Selbstbildnissen zu finden, nichts vom Leidens-Pathos.

Ganz anders nun Picasso, den wir alle, durch seinen fast kugelrunden Kopf in der Regel gekennzeichnet, problemlos wiedererkennen (Foto 1896 und 1955, Selbstbildnis, New York, 1901, als 20jähriger).4 Von drei Selbstbildnissen aus dem gleichen Jahr 1901 erscheint das New Yorker am ehesten noch den somatischen Typus, die rundliche Kopfform und die einprägsamen rundlichen Augen, anzuzeigen. Alle drei indessen weisen auf eine Vorliebe hin, sich selber älter, männlicher, härter zu sehen, nichts vom jugendlichen Elan, nichts von jugendlicher Weichheit des Gesichts eines eben erst 20jährigen. Er malte diese frühen, aber keineswegs ersten Selbstbildnisse in seiner Pariser Zeit, als er sich zu Beginn seiner sogenannten Blauen Periode durchaus dem Werk Edvard Munchs näherte, die sich nun bemerkenswert unterscheidet in allem, wie er späterhin sich selber sah: Abgehärmt, kantig, mit tiefliegenden, dunkel umrandeten Augen: Don Quixote und Opiumsüchtiger in einem.

Geschaffen hatte diese neue Variante des Melancholikers Gustav Dore 1863 mit seinen Cervantes-Illustrationen. Und seit der Karikatur eines zurückgewiesenen Malers oder den Trois Artistes Incompris (1851) kennt ihn durch Daumiers Berichte von den Erfolglosen seiner Branche ab ca. 1851 alle Welt.5

Schaut man sich bei einigen Malern - ich beschränke mich auf den deutschsprachigen Raum - und deren Selbstbildnissen um, dann stellt man mit einiger Überraschung einen durchaus scharfen Kontrast fest. Nehmen wir als erstes Beispiel Max Sievogt, geboren 1868, jener deutsche Spätimpressionist, der unfraglich der frühen deutschen Moderne zuzurechnen ist.

Döblin beschrieb ihn so: »[...] Wieder ein schlecht gelaunter Herr, ein alter, bärtiger. Seine Krawatte sitzt ungewöhnlich schief, ein sonderbares Dreieck über der Nasenwurzel, alte Narbe? Ein Beamter, der an seinen Abschied denkt, ob er ihn schon hinter sich hat. Schlaffe Züge, das macht die Muße und die Langeweile. Er war bei der Steuer und hatte das Ganze über. Nun ist er nicht mehr bei der Steuer und hat das Ganze noch mehr über. Den Fotografen hatte er angenommen, weil seine Tochter ein Bild will. Sie denkt schon an seinen Tod. Er ist lange Witwer.«6

Seine Kasseler Selbstbildnisse als 47Jähriger (1915) und die nicht immer zeitgleichen Fotos (Max Erfurth, um 1920) weisen uns auf einen Mann gesetzten Alters hin, den wir eher in seinem Selbstverständnis (Selbstbildnis 1923) als mit seinen Fotos Identischen erkennen.7 Selbst im Alter von ca. 52 Jahren erfüllt er alle Erwartungen von uns, daß zwischen Selbstbildnis und Foto nur eine geringe Distanz zu erwarten sein sollte, daß der Typus identisch mit sich selbst bleibt, daß Selbsteinschätzung und öffentliche Inszenierung mit der Fremdeinschätzung - hier durch den Fotografen - ein einheitliches, in sich geschlossenes Bild von einer Person vermitteln, bei der genaues Hinsehen und Objektivität des Erblickten nicht in Widerspruch treten können. Das nun entspricht durchaus auch noch unserem Maßstab von Ähnlichkeit beim Bildnis im 20. Jahrhundert.

Sein Generationsgenosse Lovis Corinth (geb. 1858 und damit zehn Jahre älter als Sievogt) erfüllt mit seinem frühen Selbstbildnis als 29Jähriger (Selbstbildnis 1887/88) - gemessen am Foto Max Erfurths aus den frühen 20er Jahren, als er 63 Jahre alt war - das Gebot einer naturalistischen Mimesis in der malerischen Ausdrucksform des deutschen Spätimpressionismus, die sich der aufkommenden Konkurrenz der Fotografen im Porträtfach zu stellen wußte.8 Lassen wir kurz eine Reihe seiner Selbstbildnisse an uns vorüberziehen, um zu prüfen, wie er in der Zeit dazwischen sich selbst vorstellte.

In Döblins Beschreibung hören wir folgendes über ihn: »Das Tollste in der Serie ist Nummer 3. Da ist es der Lore geglückt, einen Räuber, einen richtigen, aufzutreiben und von ihm eine Großaufnahme machen zu lassen. Wie sie das angestellt hat und wie sie zu der Bekanntschaft kommt, ist mir ein Problem; das Mädchen wächst in meiner Achtung. Was sie mit dem Ganzen bezweckt, geht mir langsam auf: sie will mir Stoffe liefern: >Greif nur hinein in das volle Menschenleben<. Diesen Kerl Nummer 3, möchte ich einmal mit Nummer 4, dem slawischen Revolutionär, zusammenbringen, das gäbe Gespräche. Typisch für den aus dem Bagno, bevor er hineinkam, die weiße Krawatte und der ordinäre Kragen. Übrigens hängt seine linke Gesichtshälfte, die Augen stehen verschieden. (Fazialis-Schwäche, hereditär?)«9

Bei aller Gleichmäßigkeit des somatischen Typus in diesen Rollen erscheint Corinth gegenüber dem Selbstbildnis mit Rückenakt (1903, Zürich) und dem Selbstbildnis mit Glas (1907, Prag) im Selbstbildnis mit schwarzem Hut (Bennington) aus dem Jahre 1912 mit 54 Jahren sichtbar gealtert, hagerer geworden. Im Jahre zuvor hatte er einen Schlaganfall erlitten, von dem er sich gerade erholte. 1920 nun - etwa gleichzeitig gemalt, als das Foto entstand - erscheint, eine linde Asymmetrie, die wir in der Frontalaufnahme des Fotos nicht ausmachen können, indessen in den drei Gemälden (Selbstbildnis 1922, Selbstbildnis am Walchensee 1924, München, Letztes Selbstbildnis mit Spiegel 1925) erscheint sie ständig verstärkt.

Soweit scheint auch einer der beliebtesten Porträtisten der Berliner Szene des späten Kaiserreiches, der seinen Stil in die Weimarer Zeit hinüberrettete, kein hier erwähnenswerter Fall der neueren Porträtmalerei, wenn es da nicht mindestens vier sehr auffällige Arbeiten gäbe, die ab 1916 auf ein bemerkenswertes Interesse an einigen Eigentümlichkeiten seines Selbstbildnisses verweisen, das nicht mehr aus der mimetisch-naturalistischen Sicht des Spätimpressionismus zu begreifen ist und sich kaum als eine ikonographisch inszenierte Rolle seiner psychischen Befindlichkeit aufzulösen scheint, sondern auf physiognomisch-anatomische Aufmerksamkeiten hinweist.

Er war gerade im Jahr zuvor Präsident der Berliner Sezession geworden, steht also auf dem Höhepunkt seiner Karriere, ist erfolgreich als Maler und geehrt durch zahlreiche Ausstellungen, als er im Jahre 1916 das Selbstbildnis mit Tod (Radierung 1916, Abb. 1)10 radierte. Hier fällt als erstes die herausgearbeitete Asymmetrie der Schädelform ins Auge. Es fällt aber auch ins Auge, daß damit auch alle glättenden Harmonisierungen des eigenen Bildnisses vermieden werden, ja alles geradezu dazu tendiert, die Karikatur eines Gnoms zu inszenieren, alles herauszuholen und mit Mitteln, die von der Karikatur her geläufig sind, zu akzentuieren, was gegen eine Wohlgestalt im klassischen Sinne eines ansehnlichen Äußeren einer gesellschaftlich respektablen Person spricht. Schauen wir weiter: Die Kunst der Geisteskranken scheint er im Stettiner Selbstbildnis (1916), im Selbstbildnis mit Thanatos (1920) oder im Selbstbildnis lachend von 1923 probeweise im Blick auf sich selbst anwenden zu wollen. Augen und Schädelform erscheinen entstellt und der Form entglitten. Hier erkennen wir einen ganz anderen Corinth, ein im Selbstgespräch an sich selbst Zweifelnder, der alle Regeln der klassischen Gestaltung des Menschenbildes hinter sich gelassen hat.

Wie kommt das in die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort, aber es läßt sich auf einen Fall hinweisen, wie ein Künstler nicht erst im hohen Alter zu derartigen Selbstinszenierungen findet, sondern von frühen Jahren an sich als eine häßliche Gestalt erfährt und vorstellt. Dieser Fall hat einen Namen, und der ist Egon Schiele (1890-1918, verstorben als 28jähriger).11

Eine durchaus durchschnittliche, keineswegs auffällige Ebenmäßigkeit zeichnete seine Züge aus (Foto 1915), selbst noch als 28jähriger 1918 auf dem Totenbett (Foto). Auch in den Augen befreundeter Malerkollegen (Max Oppenheimer, Egon Schiele, Wien, 1910) - nimmt man die dem Wiener Jugendstil verpflichteten disproportionalen Überlängungen von Hals und Händen ins Kalkül - erscheint er als junger - Picasso-gleicher - Künstler mit Kurzhaarschnitt, der ihn nicht als eleganten Bohemien erscheinen läßt, sondern mit seinen kindlich großen Augen als einen verträumten Eigenbrötler. Doch in einem der frühen Selbstbildnisse (Zeichnung, Wien, um 1910(?) Abb. 2)12 macht er selber aus seinem Kopf und seiner Physiognomie ein Experiment ganz anderer Art: Die Stirn wird riesig aufsteigend, eckig, die Haare weit aufgetürmt sich sträubend, die Augen asymmetrisch, ebenso verzogen erscheinen Nase und Mund. Auch hier lohnt sich eine kursorische Durchsicht einiger der zeitlich nachfolgenden Selbstbildnisse, um zu prüfen, ob derartige Distorsionen, Verzerrungen und Verschiebungen in der eigenen Physiognomie Methode haben oder nur das Produkt von zufälligen Launen und Lüsten sind (Selbstbildnis, Zeichnung, Graz, 1910; Selbstbildnis, Titelblatt Der Ruf, 1910; Selbstbildnis, Aquarell, 1912).

Hier sind es nun wieder die Augen, die riesig erscheinen, dagegen bleiben Stirn und Haare gebändigt-moderat. Aber auch Gegenteiliges läßt sich finden, etwa im Selbstbildnis, Gouache, Wien, 1910; Selbstbildnis, Lithographie, 1912; Selbstbildnis, Titelblatt Die Besessenen, 1913; Selbstbildnis, in: Die Aktion, 1916. Offensichtlich ist er sich seiner eigenen Physiognomie keineswegs gewiß. Sie bleibt in Bewegung, tendiert in den allermeisten Fällen aber eher zu aufgetürmter Kolossalität. Unterstützt wird dieser Eindruck noch vollends durch das mitunter struppig erscheinende, aber immer kurzgeschnittene Haar. Eine keineswegs respektable Erscheinung, die uns da entgegenblickt, nichts von Lebenslust und Vitalität, alles schon Verfall, unansehnlich aus Haut und Knochen.

Max Beckmann, geb. 1884, ist häufiger schon publizistisch-biographisch mit seinen Selbstbildnissen vorgestellt worden.13 Kaum Selbstzweifel, wie bei Schiele, im Gegenteil, er inszenierte sich gerne als erfolgreicher Unternehmer: Im Selbstbildnis, Florenz, 1907, 23jährig, Selbstbildnis, Cambridge, 1927, 43jährig und im Selbstbildnis, St. Louis, 1950, 66jährig.

Das sind die drei bekanntesten unter seinen Selbstbildnissen, die Fotos um 1920(?), 1927,1955 entsprechen dieser Selbstdarstellung eigentlich bruchlos. Offenkundig ein routinierter Bildnismaler, der sich und seiner Erscheinung vertrauen kann, kein Inszenierungs-Experiment unternimmt. Wenn es da nicht ein Blatt gäbe, das 1901 (Selbstbildnis als 17jähriger) entstanden ist, das zumindest auf mimische Experimente verweist, wie sie aus einschlägigen Lehrbüchern der Zeit geläufig sind: ein Zeugnis von jugendlich-übermütiger Schauspielerlust?

Mag es die Not des Ersten Weltkrieges sein, die er als Sanitäter an der Front verbrachte, die jetzt diese rasch gealterten, härteren Züge hervortreten läßt, aber das Betonen des Kantigen, Knöchernen an seinem Schädel läßt sich aus den Fotografien nicht nachvollziehen. Denn was seine Statur und damit auch seinen Schädel und das Gesicht auszeichnen, ist eine gleichmäßige rundliche Fülle mit ausgeprägter Muskulatur der Augenbrauenheber und nur wenigem Heraustreten des vorderen Gehirnschädels, etwa im Selbstbildnis mit Griffel (um 1916) deutlich im Vergleich mit dem Portraitfoto von Hans Erfurth, das um 1920 entstand.

Damit aber spielt er in den folgenden Jahren bis zur Unkenntlichkeit: Im Selbstbildnis mit rotem Schal (Stuttgart, 1917, 33jährig), im Selbstbildnis von 1918/1919, im Selbstbildnis mit Hausgiebel (Kaltnadel, 1918) und dem Selbstbildnis von 1918.

Nun gab es aber innerhalb der Moderne der 20er Jahre ein Alternative zum Konstruktivismus, Futurismus, Kubismus und Surrealismus, nämlich die Malerei, die seit Franz Rohs Mannheimer Ausstellung als >Neue Sachlichkeit< firmierte, die sich als erneuter Klassizismus internationaler Akzeptanz erfreute - von Picasso bis de Chirico. Genauer nun an der Konfrontation zwischen neu-sachlicher Malerei und der Kunsthaltigkeit von Fotografie spitzte sich die konkurrenzbedingte Kontroverse zu, wie es Ernst Kallai 1927 in der Zeitschrift i.10. auf den Punkt brachte: »Es fragt sich, wo die Grenze liegt, bei der die Form aufhört Abbildung zu sein und in den Bereich der Gestaltung übergeht.«

Portraitgeschichte ist zugleich ein wichtiges Stück Menschheitsgeschichte. Davon war man auch in den 20er Jahren überzeugt. Und noch eine weitere Überzeugung teilte man mit der Vergangenheit: daß das Portrait den Charakter eines Menschen aufzuzeigen habe. Wie das aber überzeugend zu bewerkstelligen sei, dessen war man sich schon nicht mehr so ganz sicher, von Einigkeit in dieser Frage konnte schließlich gar nicht die Rede sein. In den Worten Emil Orlik hörte sich das so an: »Auf den Lichtbildern eines Hill oder Biow sitzen oder stehen die Menschen ruhig da in einer charakteristischen Haltung. Die Begabung dieser Künstler suchte die Eigentümlichkeit in jeder darzustellenden Person. Und in der Tat muß jeder Fotograf etwas von dem Talent des Porträtisten haben: er muß ein Psychologe sein und die Gabe besitzen, die Erkenntnis der Persönlichkeit technisch zu materialisieren. [...] Die Summe der Bestrebungen des Malerfotografen und zugleich Technikers war dem einzigen Ziele zugewendet: gute Porträts zu schaffen, die sich durch eine psychologische Erfassung des Charakters, durch die Schärfe der Zeichnung, Reinheit und Zartheit in den tonigen Übergängen auszeichneten [...] .«14 Das sei die Ursache für die Größe jener älteren Portraitfotografien gewesen, die durch die lange Expositionsdauer eine zusammenfassende Lichtführung bedingten und durch das lange Stillehalten der Fotografierten erzwungen eine eindringlichere und länger andauernde Wirkung auf den Beschauer ausüben als neuere Fotografien.

Wenn das in aller Vagheit das Positive war, was dann aber nun machten die neueren Fotografen um und vor 1924 falsch? Die außerordentliche Lichtstärke der neuen Objektiv-Technologie war ihnen ein Nachteil. Die Folge war, daß »das fotografische Bild den kürzesten Moment eines oft zufälligen Gesichtsausdrucks zeigt, und dieser entsteht leider gerade in dem fatalen Augenblick, wo nach der Einstellung auf der Mattscheibe, dem Anbringen und Freimachen der Platte das fotografische Opfer aus der erstarrten Erwartung mit einem von Ungeduld erfüllten Unterbewußtsein dem hart vereinzelten Auge der Linse ausgesetzt ist.«15

Also nur ein Versagen in der Beherrschung der neuen Technologie? Oder gab es noch andere Argumente? Ja, und zwar die bewußte Fälschung des Abbildsdurch Retusche. Manche krumme oder allzuhochstrebende Nase sei verbessert worden, keine Gesichtsfalten seien zu sehen, Wangen würden gerundet, gar oft noch müsse die Silhouette, der Mode entsprechend, schlank gemacht werden usw. So sei in Wien die Vollbusigkeit beliebt, in Marseiile der martialische Ausdruck der Marinesoldaten - immer ein wenig der Held von Tarascon, in London der picture-hat à  la Gainsborough und in Shanghai die gerade beliebte Darstellerin der Frauenrolle als Vorbild. Mit einem Wort: Physiognomische Identität aus zweiter Hand zu bedienen warf Iwan Goll (1931) den Fotografen vor. Das nun war nichts Neues. Die modische Anpassung des eigenen Äußeren an das eines Vorbildes kennt auch die Geschichte der bildenden Kunst zu Genüge: Dürer malte sich christusgleich, das Christusbildnis selber wurde nach dem Modell des parthischen Herrschers konzipiert, das des Sokrates nach dem des Gottes Pan. Das hatte keineswegs Zeitgenossen zu Protesten veranlaßt, im Gegenteil ihr Erfolg zeigt die zeitgenössische Zustimmung zur Angleichung. Doch offensichtlich hatten die Maßstäbe sich gewandelt. Das Individuum hatte individuell auszusehen! Wie aber sollte das zu bewerkstelligen sein. Orlik sprach vom Fotografen, der Psychologe zu sein habe.

Was aber stellten Psychologen für Kriterien bereit in ihrer durchaus noch jungen Wissenschaft von gerade einmal zwei bis drei Generationen? Schlicht keine.

Psychologen befaßten sich mit dem Seelenleben und den Charakterstrukturen und deren Defekten, kaum aber mit dem korrespondierenden Äußeren der individuellen Erscheinung. Wenn, dann machten sie nebenbei gelegentlich doch Anleihen bei einer längst in Verruf geratenen Pseudo-Wissenschaft: der Physiognomik16, die - nach Lavaters (1775) Hochzeiten bis kurz vor die Mitte des 19. Jahrhunderts - indessen seitdem ein durchaus lebhaftes populäres Nachleben zeitigte. Und nur darauf können sich derartige Hinweise beziehen, wenn von Individualität, Charakter und äußerer Erscheinung die Rede war.

Nie zuvor sind mehr physiognomische Traktate nachgedruckt, wiederaufgelegt und kommentiert worden. Nie zuvor sind mehr Anthologien, neue Systeme und Gegenentwürfe geschrieben und gedruckt worden als in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts. Eine ungeheure Flut von populären Anleitungen und kleinen Handbüchern erscheint - zumal auch in den USA, wo die Physiognomik und Phrenologie die Rolle einnahm, die später dann der IQ-Test übernommen hat. Proust, Joyce, Musil und viele, viele andere, nicht zuletzt Döblin, mühen sich ab, die Inkonsistenz, die Widersprüchlichkeit und stetige Wandelbarkeit als zentralen menschlichen Charakterzug am Charakter des bürgerlichen Individuums mit Tausenden von Worten zu bearbeiten - und Sander fotografiert anonymisierte Typen, um das Gegenteil zu behaupten.17 Aber wir werden ihm auf die Schliche kommen. Auf die sozialromantischen, individualfeindlichen Auswahlprinzipien seines realisierten Mappenwerkes ist verschiedentlich eingegangen worden. Die Ergebnisse waren offenkundig: Zu deutlich ist der Verrat am bürgerlichen Versprechen, die Freiheit des Individuums zu garantieren. Sander inszenierte schon durch die Auswahl gegen seine selbstschützerischen Behauptungen den Massenmenschen, gerade auch durch die Auslassung der Mehrheit: Das Industrie-Proletariat und die Angestellten kommen als Berufe nicht vor - das mag am Charakter des Vorläufigen und Fragmentarischen liegen. Aber auch Kinder finden sich nur am Rande, Jugendliche in wenigen Ausnahmen nur. Er inszeniert eine überalterte Welt, die aber weitgehend faltenlos, gediegen und vor allem sauber auftritt. Keiner ist krank, trägt Verletzungen oder Gebresten. Der Erste Weltkrieg hat in seinen Fotos nicht stattgefunden. Hungersnot und Inflation gibt es nicht. Alltag findet nicht statt. Alles und jeder ist feiertäglich, sonnigen Gemüts, gelassen und ruhig. Es ist eine behütete, gepflegte, mittelmäßige Bürgerlichkeit, die keine Ausnahme zuläßt. Jede Abweichung vom Normalen bleibt ausgeschlossen. Übrig bleibt die außengeleitete, sich gegenseitig kontrollierende >Lonely Crowd<, wie sie David Riesman aus seinen eigenen biographischen Erfahrungen der 20er Jahre in ihren Auswirkungen dann 1950 beschrieb - nur triste amerikanische Kleinstadtverhältnisse? Oder doch weltweit charakteristisch für Großstädte industrialisierter Länder? Ich teile nicht ganz diese kulturpessimistische Attitüde, die sich so bequem ausspricht, denn sie unterschlägt naheliegende, offensichtlichte Differenzen.

Beginnen wir uns selber die Objekte anzusehen. Ich wähle als probate Fälle die Bildnisfotografien von dem Maler Otto Dix und dem Philosophen Max Scheler, weil von beiden hinreichende zum Vergleich geeignete Bildnisse aus gleicher Zeit - aber von anderer Hand - in der Kölner Ausstellung Zeitgenossen. August Sander und die Kunstszene der 20er Jahre im Rheinland zu sehen waren.18 Die Frage, die ich stelle, lautet schlicht: Wie sieht sich Otto Dix in seinen zahlreichen Selbstbildnissen selber? Wie inszeniert er seine eigene Physiognomie?

Auffällig sticht als erstes das Profil hervor. Als erstes fällt auf, daß die klassische Dreier-Teilung (Kinnspitze-Nasenansatz - Nasenansatz-Nasenwurzel - Nasenwurzel-Haaransatz) zugunsten der unteren, der Kinnpartie aufgehoben ist: Die Kinnpartie von der Unterlippe bis zur Kinnspitze ist etwa um die Hälfte gelängt. Als zweites fällt auf, daß die Nase sehr aufgewölbt, die Spitze stark gerundet erscheint und daß insgesamt die Nase im Profil flach wiedergegeben ist. Drittens ist der obere Rand der Orbitalöffnung, der Augenbrauenbogen - zumindest auf seiner rechten Seite - unglaublich weit vorgewölbt.

Prüfen wir diese markanten Verzeichnungen an einer zeichnerischen Aufnahme von der anderen Seite. Die Proportionierung ist weniger deutlich, aber immer noch etwas zugunsten der Kinnpartie verzerrt. Die Nase ist weniger gerundet, hier stärker zugespitzt und weiter vorgezogen. Die Augenbrauen indessen ragen hier zwar weniger - aber dennoch deutlich vor, hier auch wieder diejenige auf der uns abgewandten Seite. Vergleicht man dieses Selbstbildnis mit einem Foto von Bruno Schuch von 192719, dann überrascht nun keineswegs, sehen zu müssen, daß die dickliche, wohlgerundete Nase typisch scheint, aber die Augenbrauen gar nicht, dafür aber die Unterlippe hervorragend ausgebildet erscheint. Nehmen wir noch ein weiteres fotografisches Bildnis aus dem Werk von Franz Fiedler aus dem Jahre 1933 hinzu, dann stellt sich überraschend heraus, daß erstens die Proportionen völlig normal, das Kinn sogar eher klein ist. Zweitens die Nase nicht nur nicht platt nach oben gewölbt, sondern leicht gekrümmt mit kräftig gerundeter Spitze erscheint, zu dem tendiert, was man gemeinhin eine >Knubbelnase< nennt. Drittens die Stirn zwar ingrimmig gerunzelt, die Augenbrauen aber durchaus sich nicht vor die Stirn wölben, sondern in sanftem Bogen in die Orbitalöffnung übergehen.

Wie können wir diesen disparaten Befund nun aber verstehen, wie den Widerspruch, die keineswegs nur marginalen Abweichungen aufklären? Aber es kommt noch doller: Wenn wir Otto Dix gar als zum Tarzan verkleideten Max Schmeling mit Anny Ondra als Jane sehen und daneben das von Hugo Erfurth im Atelier gestellte Foto von 1933 halten - auf dem das Profil von Dix eher ein kurzes, rundlich fliehendes Kinn zu zeigen scheint, aber mit immerhin recht ordentlich großen Ohren -, dann drängt sich doch ein nunmehr naheliegender Verdacht auf: Otto Dix stilisiert sein Profil von früh an auf einen bestimmten Typus hin, der eine bekannte Vorgeschichte in den Annalen der Physiognomik hat. Er stilisiert sich zum Affen, affenähnlich. Warum das aber und mit welchem semantischen Ziel?20 Etwa der alten christlichen Vorstellung vom Menschen als dem Affen Gottes, weil er diesen nachahmt in allem was er tut und dennoch nie dessen Vollkommenheit erreicht? Wir wissen es nicht.

Fragen wir also weiter: Was haben Kunst und stammesgeschichtliche Primitivität mit einander zu tun?

Die Geschichte der kurz nach der Mitte des 19. Jahrhundert einsetzenden Entdeckung der Kindheit der Kulturgeschichte und ihre vehemente Rezeption in der damals sogenannten primitiven Kunst mag hier durch den abgekürzten Hinweis auf Picassos Gemälde der Demoiselle d'Avignon (1907) belegt sein, das durchaus als kunsttheoretisches Bekenntnisbild interpretierbar ist.21 Aber Picasso war nicht der erste. Bereits um 1890 hatte Auguste Renoir dem Kopf einer jugendlichen Tänzerin ein Profil mit auffälliger Prognathie gegeben und stieß beim Publikum und der Kritik auf heftige Empörung, denn sie wußten aus den kosmetischhygienischen Handbüchlein ihrer Mütter was das sollte: Rorets Lavater des Dames. (Abb.3)22

Lassen wir es vorerst dabei bewenden. Wir sehen aber, wir stecken schon mitten in der Geschichte der anthropologischen Phrenologie, die von Campers Entdeckung des sogenannten Gesichtswinkels über Gall, den Pseudo-Lavater, zu Darwins Entwicklungsgeschichte führte. Dies alles konnte durchaus wachen Künstlern nicht verborgen bleiben. Meine Vermutung geht dahin, daß Dix - sehr wohl gebildet und informiert - aus diesem Grunde gegen den klassischen akademischen Bildniskanon verstößt, sein Profil häßlicher, primitiver, atavistischer inszeniert, als es auf diesen zeitgenössischen Fotos erscheint. Warum? Um einerseits nicht in die langweilig ebenmäßige Neutralität eines klassischen Schönheitsideals zu verfallen und um andererseits jene Dimensionen schöpferischer Potenz an sich selber ausfindig zu machen, die ihm einige der in den 20er Jahren kursierende Mythen nahelegten. Und er entdeckte sie in seiner Kopfform wieder und wieder.

Was aber machen Sander und die anderen Fotografen aus seinem Kopf: Ein eher blasses, unscheinbares, bescheidenes Profil, ein bescheidenes >Antlitz< eines Angestellten, der am Reißbrett seine Konstruktionszeichnungen nicht so recht zuwege zu bringen will: ein Typus? Das eines Massenmenschen von durchschnittlich langweiliger Harmlosigkeit.

Wenn dieses Urteil zu hart erscheint, sollte eine Probe aufs Exempel gemacht werden. Gebietet es doch die wissenschaftliche Redlichkeit zur Überprüfung eines Befundes, einen zweiten Probelauf zu unternehmen, der mit anderen Exemplaren durchgeführt wird, um zu überprüfen, ob die Ergebnisse vom ersten sich bestätigen oder widerlegen lassen.

Nehmen wir uns nunmehr einen Denker, einen Philosophen vor, den Sander fotografiert und Dix auch gemalt hat: Max Scheler. Scheler beklagte sich über ein Porträt. Anfang März 1926 schrieb er in einem Brief: »Dix - also malt mich; bisher 2 Sitzungen. Der erste Entwurf in Kohle ist nach meiner u. seiner Meinung glänzend gelungen. Hoffentlich wird's was u. stellt das scheußliche Seewald'sche Bild in Schatten.«23 Was ihm an Seewalds Gemälde so abträglich dünkte, erfahren wir aus seinem Brief nun leider nicht. Auf dem Gemälde ist folgendes zu sehen24: Eine breitschultrige, gedrungene Gestalt, mit kleinen Händen und dünnen Ärmchen. Dafür ein gewaltiger, wohl gebräunter Kopf. Ein feingeschnittener Mund - im Foto eher mürrisch hängend -, eine breite, leicht einwärtsgebogene Nase, große Tränensäcke, helle, klare Augen und eine Glatze. Dann aber ein Schädel! Breitflächig die abgesetzte Stirn und ein weit ausladendes Hinterhaupt. Gefiel ihm die Disproportion nicht oder der gewaltige Kopf, daß dem Maler das Bildnis verblieb und sich heute im Nachlaß der Stiftung in Ascona befindet?

Was nun machte Dix besser - wenn wir riskanterweise das Urteil über die erste Skizze auch auf das Gemälde anwenden, das ist zwar wissenschaftlich nicht vertretbar, wird aber im Folgenden keine entscheidende Rolle mehr spielen?25

Die Proportion des Körpers insgesamt erscheint etwas schlanker, der rechts sichtbare Arm länger und angemessen proportioniert. Doch der Kopf ist auch hier nicht sehr viel kleiner geraten, im Vergleicht mit dem Foto erscheint der Kopf immer noch um ein Merkliches vergrößert, ebenso wie das Ohr. Der Kopf aber nun hat es auch in anderer Hinsicht in sich. Vor allem die prominente, fast zweigeteilte Stirnpartie. War sie bei Seewald zu einem prominenten Block abgesetzt, ist sie bei Dix zweiteilig modelliert. Und über dem linken Auge wölbt sich im unteren Teil der Stirn eine merkwürdiger Wulst auf die Nase zu, fast wie ein gotisches Fischblasenornament zu einer selbständigen Form gestaltet. Die Bekleidung bleibt konventionell, bürgerliche Alltagskleidung eines akademischen Intellektuellen im höheren Alter. Da ist kein Unterschied zu Sanders Foto.

Was hat es nun mit dieser Formulierung des Schädels auf sich, die doch bei Seewald und Dix gemessen an Sanders Darstellung auffälligster Teil der ganzen Gestalt ist: Es ist die sprichwörtliche Denkerstirn in bester phrenologischer Tradition. Wie etwa Carlo Carloni Franz Joseph Gall 1826 in einer Lithographie (Abb. 4) darstellte.26

Franz Joseph Gall, aus Wien gebürtig, wurde aus der Stadt vertrieben, weil er eine Theorie der Funktion der Gehirnregionen im Jahre 1805 vertrat, die auf heftigen Widerstand der k. u. k. Obrigkeit stieß, er floh nach Paris und lehrte dort unbehelligt. Seine Theorie verbreitete sich rasch über ganz Europa bis in die USA, wo noch am Ende des 19. Jahrhunderts viele Auflagen seiner Werke erschienen, als in Europa seine Theorie längst als überholt galt. Sie lautet: Man könne an der äußeren Gestalt des knöchernen Schädels die unterschiedlichen Grade der Ausformung der weichen Gehirnmasse abmessen. Daß Dix mit derartigen Vorstellungen in der Zeit um 1919 vertraut war und damit spielte, lehrt der Holzschnitt Ich bin das A und das O (Abb. 5).27

Liest man nun die Seewald'sche, aber auch die Dix'sche Artikulation des Scheler'schen Schädels nach dieser Gall'schen Gehirntopographie, dann liegt dort, wo Dix diesen bemerkenswerten Bogen über der rechten Augenbraue platzierte, der Phänomensinn, gleich neben dem Sinn für Ort und Zeit, unterhalb des Sinnes für Vergleich, daneben der der Kausalität. Oberhalb befindet sich der Sinn für Wohlwollen, Nachahmung, schließlich in der Seewald'schen Delle der Sinn für Ehrfurcht. Hinten schließlich im ausladenden Hinterkopf Beständigkeit, Gerechtigkeit und Eigenliebe. Die Ehrfurchtsregion ist nun bei Dix prominenter geraten, die Beständigkeitsregion indessen nicht weniger ausgeprägt. Nicht schlecht für einen Philosophen vom Schlage Schelers im katholischen Köln.

Wie aber kommen Dix und Seewald zu Gall? Haben sie's einfach so erfunden und ausprobiert? Mitnichten, Gall hat ganz einschlägige Erfolge nicht nur in der Anthropologie, sondern auch in der bildenden Kunst schon zu seiner Zeit aufzuweisen. Nicht nur Paganinis, selbst Napoleons von Antonio Canova modellierter und vor allem auch Goethes und Beethovens Schädel nahmen im Laufe des 19. Jahrhunderts ständig an Umfang zu, und zwar genau in jenen Regionen, die nach Gall zu den bedeutsamen für Dichter und Denker zu rechnen sind.

Ein Bildnis Goethes aus der Hand von Gerhard von Kügelgen (1810)28 und die durch ihre Aufstellung in Weimar besonders geadelte Goethebüste von David d'Angers aus dem Jahre 1828 können wohl als das einschlägigste Produkt dieser Umsetzung der Gall'schen Theorie angesehen werden.29 Diese beiden Beispiele mögen ausreichen, um die ungebrochene bildnerische Tradition der Gall'schen Schädellehre - und ihrer ihn popularisierenden Verwandten des späten 19. Jahrhunderts - bis ins 20. Jahrhundert hinein zu dokumentieren, wobei wohl Belling der interessanteste Phrenologe unter den Bildnis-Bildhauern der 20er Jahre gewesen sein wird. In der Literatur nichts dazu!

Was aber soll das nun in der Kunst der 20er Jahre, wo doch die bildenden Künstler sich schon in der zweiten Generation anstrengten, allen Akademismus des naturalistisch-idealistischen 19. Jahrhundert zu überwinden und endgültig hinter sich zu lassen?

Es ist mit einem Wort zu sagen - und die Nationalsozialisten hatten dafür nicht nur genug Gespür, um sich vehement und brutal genau dagegen zu stemmen, sondern auch das atavistische Potential, um einen Genozid zu inszenieren: Individualität ist in der äußeren Erscheinung des Menschen nur am Defekt, an der Abweichung vom Ideal des Schönen manifest. Und das war schon seit Picassos Zeiten »primitiv, wild, atavistisch, verbrecherisch, krank«. Bildende Künstler haben versucht dem, was seit Lombrosos Theorie30 gesellschaftlich schon im Kaiserreich negativ besetzt war, auf ihre Weise Positives für ihr Selbstverständnis von sich abzugewinnen.


Peter Gerlach




Anmerkungen



1 Alle Abbildungen zu finden in: Matthias Arnold: Vincent van Gogh. Biographie. München 1993.


2 Helmut Kreuzer: Die Boheme. Beiträge zu ihrer Beschreibung. Stuttgart 1968. Einen weiteren Traditionsstrang erfaßt Therese Bhattacharya-Stettier: Nox mentis. Die Darstellung von Wahnsinn in der Kunst des 19.Jahrhunderts. Bern 1989. Zum Thema »Künstlerselbstbildnis« vgl. auch Oskar Bätschmann: Selbstbildnisse im 20. Jahrhundert. In: Wilhelm Schlink (Hrsg.): Bildnisse. Die europäische Tradition der Portraitkunst. Freiburg i. Br. 1997, S. 263-307.


3 Ragna Stang: Edvard Munch. KönigsteinTs. 1979, S. 9 ff.


4 Kirk Varnedoe: Picasso's Self-Portraits. In: William Rubin (Hrsg.): Picasso and Portraiture. New York 1996, S. 110 ff.


5 Gustav Forberg, Günter Merken: Gustav Dore. Das graphische Werk. München 1975, Bd. I, S. 454 ff., Bd.II, S. 1110 ff.


6 Alfred Döblin: Fotos ohne Unterschrift. In: Das Kunstwerk. Monatsschrift über alle Gebiete der bildenden Kunst (1946), H. 12, S. 24.


7 Ernst-Gerhard Güse (Hrsg.): Max Slevogt. Stuttgart 1992.


8 Horst Uhr: Lovis Corinth. Oxford 1990.


9 Döblin: Kurztitel, S. 24 - 25.


10 Uhr: Lovis Corinth, Abb. 167 (Berlin, Staatliche Museen, Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett).


11 Alessandra Comini: Egon Schiele. Portraits. Berkeley, Los Angeles, London 1974.


12 Ebd., Pl. 32 (Wien, Albertina).


13 Thomas Döring, Christian Lenz: Max Beckmann. Selbstbildnisse. Heidelberg 2000.


14 Emil Orlik: Über Fotografie (1924). In: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie II. München 1979, S.182.


15 Wolfgang Kemp: Foto-Essays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie. München 1978, S. 182 f.


16 Peter Gerlach: Bibliographie zur Physiognomik. CD als Beilage zu: Von Angesicht zu Angesicht. Ausstellungskatalog Städtisches Museum Leverkusen, Schloß Morsbroich 2000.


17 Zeitgenossen. August Sander und die Kunstszene der 20er Jahre im Rheinland. Ausstellungskatalog Josef-Haubrich-Kunsthalle Köln - Kunsthalle Kiel. Göttingen 2000.


18 Ebd., S. 23 (Abb. 19).


19 Alle Fotos abgebildet in: Ulrike Rüdiger: Otto Dix. München 1997.


20 Der gelegentlich geäußerte Verdacht, hier liege eine Typisierung zum soldatisch-militärischen Kraftmann vor, erledigt sich mit einem Blick auf Kriegsbilder oder Ehrenmäler dieser Zeit sehr rasch und entpuppt sich als eine Verwechslung mit denjenigen, die erst lange nach Dix' Versuch in den 30er Jahren und danach in Deutschland, Rußland, Italien u. a. O. entstanden.


21 Zur Analyse dieses »kunsttheoretischen Bekenntnisbildes« vgl. Günther Bandmann: Les Demoiselles d'Avignon. Stuttgart 1965 (= Werkmonographien zur bildenden Kunst, Bd. 109).


22 [Nicolas-Edme Roret, Ed.]: Nouveau manuel complet du physiognomiste des dames, contenant de nouveaux apercus resultant de leur sante ou de leur position dans le société. D'apres le systeme de Lavater, Porta, Cureau de la Chambre et Camper. Par un Amateur. Ouvrage orné de figures. = Manuels-Roret. Paris 1843. Taf II.


23 Zeitgenossen, S. 22, Anm.37.


24 Ebd., Abb. 20 und 22.


25 Ebd., Abb. 21.


26 Von Angesicht zu Angesicht, S. 410 ff., Abb.


27 Fritz Löffler: Otto Dix. Leben und Werk. Wien, München 1967, S. 21, Abb.


28 Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. 1802-1820. Leipzig 1924, S. 98, Taf. zwischen S. 96 und 97.


29 Karl Markus Michel: Gesichter. Physiognomische Streifzüge. Frankfurt a. M. 1990.


30 Cesare Lombroso: L'Uomo delinquente in rapporto all'antropologia ... Milano 1876. Dt.: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung. Hamburg 1887 (2. Aufl. Hamburg 1894 - 96).



last update 06. 2008
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