Die Entdeckung des Kindes als "Genie" (Abb. 1 a, b) ist ein Gedanke der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, eine Vorstellung, die sich - über Rousseau vermittelt - im späteren neunzehnten Jahrhundert durchsetzte.1 Noch Baudelaire definierte Genie als "wiedergefundene Kindheit".2 Pädagogik und Entwicklungspsychologie befaßten sich mit dieser Vorstellung, kaum aber mit der spezifischen Ästhetik kindlicher Hervorbringungen. Abgesehen von gelegentlichen Ausstellungen vernachlässigte die seriöse Forschung dieses Feld, wiewohl die Kinderzeichnung in der Zeit um 1890 z.B. in Wien - durchaus umstritten - als überlegenes, schöpferisches Produkt unter Künstlern galt.3(Abb. 1 a, b)
Diese Entdeckung indessen wurde alsbald von unterschiedlichen Interessen genutzt. Bei der Suche nach dem Gegenbegriff begreift man diese Vorstellung von der Genialität der wiedergefundenen Kindheit als Gegenentwurf der zeitgenössischen Moderne des 19. Jahrhunderts zur Kunst "der Alten". Damit bezeichnete man noch lange nach Winckelmanns Zeiten die Kunst der klassischen Antike. Auf diese beriefen sich alle Klassizisten und damit jedes akademische Lehrprogramm des späten 19. Jahrhunderts. Damit sind die oppositionellen Positionen zunächst abgesteckt. Die neu entdeckte, alternative Quelle ihrer Inspiration zu benennen vermeiden indessen noch lange selbst Künstler wie Kandinsky, Klee und andere, die den Durchbruch zur Moderne des frühen 20. Jahrhunderts vollzogen. Das hatte einen guten Grund: Das bisher als wertvoll geltende Wahre und Feine wurde einer Abwertung ausgesetzt und das bis dahin als wertlos Angesehene, das der Primitivität und Vulgarität Verdächtige konnte versuchsweise einer ersten Nobilitierung unterzogen werden. Dieser Versuch blieb indessen nicht ohne heftigen Widerspruch. Ein längerlebiger Vorwurf gegen diese Inspirationsquelle wie auch gegen die damit erzeugte Kunst lautete, sie sei eine "Primitivitäts- und Kindlichkeitskomödie" oder sie sei infantil: "Das kann doch jedes Kind!" flüsterte oder rief entrüstet der Bürger.4 Belegen läßt sich das anhand von Karikaturen auf moderne Kunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute.5 (Abb. 2)
Ab wann denn nun und durch wen Kinderzeichnungen als "Kunst" und Kunst der Naturvölker mit moderner Kunst ernsthaft zur gegenseitigen Erhellung verglichen wurden, scheint ungeklärt. Im Prozeß der Etablierung einiger Facetten heute noch gültiger Begriffe von Kunst werden in dieser Zeit einige Varianten ausgelotet, die keineswegs von Anfang an zum gesicherten Bestand gehörten.6
Der folgende Beitrag befaßt sich mit Vorträgen des in Bonn tätige Professor für Physiologie und Anthropologie, Max Verworn, von 1907. Er gehörte zu den ersten, die sich dieses Themas annahmen. Wie sehr er und seine Gegenspieler - allen voran Wilhelm Wundt - unter dem Bann der 1866 publizierten "natürlichen Schöpfungsgeschichte" und der für diese grundlegenden "Rekapitulationsidee" Ernst Haeckels und Karl Lamprechts stand, wird weiter unten dargelegt. Nicht von ungefähr spielte sich diese Debatte ab, während in der bildenden Kunst der "Jugendstil" die Moderne prägte. So ungeklärt das Aufkommen des Begriffs "Jungendstil" - als Pendant zur Kindlichkeits-Ideologie mit vielen inhaltlichen Parallelen - sein mag, bemerkenswert bleibt, daß der Begriff "Jugendstil" als abwertender für ein neues graphisches Produktdesign vor 1896 in Gebrauch kam, längst bevor er auf irgendwelche Malerei, Skulptur oder Architektur übertragen wurde.7 Eine innige Verknüpfung von künstlerischer Tätigkeit und "Leben" als ausschließlich ästhetisches Anliegen wurde erstmalig im Programm der "Brücke" vom Herbst 1906 formuliert. Darin wurde die "Jugend, die die Zukunft trägt" zur Selbstorganisation und zum gemeintschaftlichen Widerstand "gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften" aufgerufen. Das Vorstellungsfeld ist ein gleiches. Der Begriff weist auf eine Fiktion von zivilisatorisch ungetrübter, natürlicher Begabung und talentierter Frische des "Geist[es] der Jugend". Mit diesem Moment ist - der älteren Jungbrunnen-Symbolik verwandt - die Vorgeschichte des noch immer aktuellen Jugendlichkeitskultes der Freizeitkultur unserer Gegenwart angesprochen. Es begann vor 90 Jahren, als die Älteren der heutigen Pensionärsgeneration gerade geboren wurde. Die Phase der wissenschaftlichen Konstruktion - und ihren riskanten Manipulationen - von noch heute ungebrochen wirksamen Mustern unseres Selbstverständnisses ist zugleich Gegenstand dieses Beitrages.
Im Kölner Gürzenich fanden 1907 die internationalen Prähistorikertage statt.8 Es war die jährliche Versammlung der Vertreter einer Disziplin, die sich mit der Erforschung der kulturellen Hinterlassenschaft der Menschheit aus jener frühen Phase der Geschichte befassten, die vor der Erfindung und Verbreitung der Schrift eingeordnet zu werden pflegt.
Köln hatte man zum Tagungsort ausgesucht, um diese fachwissenschaftliche Tagung mit einem publikumswirksamen Ereignis verbinden zu können, nämlich der Eröffnung des Anthropologischen Museums im Bayenturm am 28. Juli 1907. (Abb. 3) Dort verblieb es bis zur Zerstörung am 29.Juli 1943.9 Die Geschichte dieses Museums ist bekannt. Nach nur 4jähriger Vorarbeit durch den 1903 gegründeten Cölner Anthropologischen Verein wurde dessen Sammlung der Stadt Köln gestiftet.10 Im Gegenzug dafür erhielt er das bescheidene Museumsgebäude.
Im Rahmen der Übergabe hielt ein junger Gelehrter11 der Göttinger Universität einen Vortrag mit dem Titel: "Zur Psychologie der primitiven Kunst."
"Die aus Anlass der Eröffnung des hiesigen Anthropologischen Museums hier stattfindende Tagung von Gelehrten aus Deutschland, Belgien, Frankreich, Norwegen, Schweden, der Schweiz, aus Ungarn, Nordamerika und Brasilien [vgl. Abb. 4, Sitzplan für das Festbankett] hat gestern vormittag im Gürzenich ihren Anfang genommen... Zur Psychologie der primitiven Kunst brachte Professor Dr. Max Verworn=Göttingen, der Vertreter des Göttinger Anthropologischen Vereins, seine Ansicht auf Grund von Studien über das Geistesleben des Menschen dahin zum Ausdruck: Die psychologische Analyse des künstlerischen Schaffens beginnt in unserer Zeit von einer etwas breiteren Basis auszugehen, als die lediglich auf dem Schönheitsbegriff der klassischen Kulturvölker folgende ältere Kunstpsychologie. Die Studien über Kinderkunst und die großen Entdeckungen auf dem Gebiete der paläolithischen Höhlenkunst haben nach dieser Richtung besonders anregend gewirkt. Bei diesen Studien hat der scharfe Gegensatz zwischen der streng naturalistischen Kunst der paläolithischen Mammut- und Rentierjäger und der durch und durch stilisierenden Kunst der höheren prähistorischen Kunst immer besonderes Staunen erweckt. Eine psychologische Analyse der primitiven Kunstentwicklung zeigt indessen, daß hier ein ganz natürlicher Entwicklungsgang vorliegt, der schlechterdings nichts Auffallendes hat. Die Kunst des Kindes ist ideoplastisch, denn sie zeigte infolge der Erfüllung des Kindes mit Vorstellungen durch die Erziehung von Anfang an ideoplastische Züge. Bei Zeichnungen nach dem Gedächtnis liefert das Kind nicht ein naturwahres Bild des Objekts, sondern ein Bild von dem, was es von dem Objekt gelernt hat und weiß. Die erste Kunst des Kindes entspricht also nicht der physioplastischen Kunst der paläolithischen Zeit, sondern von vornherein der ideoplastischen Kunst der späteren prähistorischen Kulturen. Die Kunst der paläolithischen Jäger ist rein physioplastisch, weil der Jäger den lebhaften Sinneseindruck des überlisteten und erlegten Wildes nach dem ungetrübten Erinnerungsbilde reproduzierte, genau wie der heutige Buschmann. Er war ein reiner Sinnesmensch, seine Kunst daher Ausdruck des überwiegenden Empfindungslebens. Die Kunst der späteren prähistorischen Perioden ist durchaus ideoplastisch, weil sie ein Ausdruck des mächtig erwachenden und sich entwickelnden Vorstellungslebens ist. Den Anstoß für seine Entfaltung gibt die Konzeption der Seelenleiden, der Idee einer Spaltung des Menschen in Leib und Seele. Die Seelenidee ist der erste größere und folgenschwere Versuch des Theoretisierens in der Menschheitsentwicklung. Der bildnerische Ausdruck davon ist die ideoplastische Kunst, die ihre volle Parallele hat in der ideoplastischen Kunst der meisten heutigen Naturvölker. Der paläolithische Jäger mußte eine physioplastische Kunst liefern, weil ihm alles Theoretisieren und Spekulieren über die Dinge, das seine Vorstellung von den wirklichen Dingen trüben konnte, noch vollständig abging. Der Mensch der späteren prähistorischen Kulturstufen mußte eine ideoplastische Kunst hervorbringen, weil er seine naiven Spekulationen über die Dinge und ihre bizarren Phantasiegeburten zum Ausdruck brachte, denn die Kunst ist der Spiegel der Seele." Das berichtete eine Tageszeitung am gleichen Tag in einem ganzseitigen Artikel.12
Die Formulierung des Vortrags-Titels mag uns fürs Erste nicht besonders beachtenswert erscheinen. Für diese relativ friedliche Phase der späten nach-bismarckschen Kaiserzeit brachte sie jedoch nicht weniger als zwei Reizwörter zusammen, die wir zu kommentieren haben:
1. "Psychologie"
2. "primitive Kunst"
Daß er diesen Vortragstitel mit Bedacht gewählt hatte, lässt sich aus dem Titel eines Vortrages erahnen, den er im Januar zuvor in Göttingen vor dem Anthropologischen Verein gehalten hatte. Dort ging es ums nämliche Thema: "Kinderkunst und Urgeschichte."13
Zu 1.
Psychologie war relativ jung als universitäre Disziplin. Bis zur Romantik verteilten sich Inhalte dessen, was wir heute gewöhnlich unter Psychologie verstehen, die Wissenschaft von dem Innenleben, der Seele - von alltäglichen Gefühlen über Schock und extremen Erregungen bis hin zu Traum und traumatischen Zuständen - und ihren Auswirkungen auf die klassischen Disziplinen Philosophie (als Zweig der Erkenntniskritik) und Medizin, dort als Physiologie der Sinnesorgane und als Physiognomik und Pathognomik. Wie der Name, Physis und nomos, bereits erkennen läßt handelte es sich um eine Lehre der Bezeichnung physischer, körperlicher Merkmale oder Kennzeichen, deren Ursache man in seelischen Vorgängen zu recht vermutete. Sie blieb bei der "descriptio superficialis", der Beschreibung von der Oberfläche her. Die Psychologie, die Lehre vom Geist/Seele, entstand seit der Romantik als Beschreibung von Beobachtungen innerer Befindlichkeit, als protokollierte Eigenbeobachtung, der "descriptio intrinseca".14 Erst nach Nietzsche, der auch auf der dominanten Rolle der Instinkte, des Trieblebens insistierte, entwickelte gegen Ende des 19. Jahrhunderts Sigmund Freud seine Lehre vom Unbewußten und der Aufdeckung der Nachtseiten unbewußter Triebregungen in seine Traumdeutung durch systematische Analyse der Selbstdarstellungen zahlreicher Einzelpersonen, die er teils persönlich befragte, teils nach Materialien aus literarischen Quellen, wie z.B. Märchen, Tagebuchaufzeichnungen u.ä erarbeitet hat. Die Ergebnisse seiner Forschungen, die bis 1907 vorlagen, häuften nun eine - für die bigotte bürgerliche Moral teils peinlich, teils sensationell - intime Enthüllung auf die andere und brachten öffentlich zur Sprache, was man sicherlich längst wusste, aber aus Schamgefühl nie zu bedenken, laut auszusprechen oder gar zu drucken gewagt hätte.15
Hatte die Biologie zu enthüllen, daß die in der Dichtung der Romantik noch viel besungenen duftenden und farbenprächtigen Blüten von Pflanzen, mit denen man noch jede festliche Tafel zu dekorieren pflegte oder die als artiges Geschenk bei passender Gelegenheit selbstverständlich dünkten, nichts anderes sind als die Geschlechtsorgane der Pflanzen, war Psychologie die Wissenschaft der Enthüllungen von Peinlichkeiten für die bürgerliche Gesellschaft. Zumindest evozierte der Begriff Assoziationen mehr oder weniger in dieser Richtung. Was hatte also Verworn an primitiver Kunst zu enthüllen?
Zu 2.
Nicht minder anstößig-auffällig mußte die Kombination der Begriffe "primitiv" und "Kunst" wirken.
"Kunst" war ein traditioneller Gegenstand der philosophischen Disziplin "Ästhetik", der Lehre vom Schönen. Diese Einschränkung auf unser Verständnis der schönen Künste entstammt dem 18. Jahrhundert. Aus dieser idealistisch-normativen Teildisziplin hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine historisch orientierte, auf Quellenkunde und Denkmälererfassung spezialisierte neue Disziplin abgesondert, die wir noch heute als Kunstgeschichte kennen.16 Sowohl der philosophischen Ästhetik, als auch der jungen Kunstgeschichte galt Kunst als ein hochentwickeltes Produkt menschlicher kultureller Entfaltung. Kunst war also Ausdruck kultureller Höchst-Leistung. Selbstverständlich kannte man Phasen des kulturellen Aufstieges und Niederganges, etwa das Ende des ägyptischen Reiches oder des römischen Imperiums mit allen negativen Folgen auch für die bildende Kunst. Man sprach hier von Verfall, von Niedergang, der erst im 9. und dann schließlich im 14. Jahrhundert durch die Wiedergeburt der Kunst als Renaissance abgewendet und Kunst zu einer neuen Blüte verhalf, usw. Nirgends indessen fand sich in der Vorstellung ein Raum oder eine Zeit, in der man künstlerische Produktion mit der Etikette "primitiv" hätte versehen können. Kaum hätte es dann Kunst sein können.17 Vieles - in Raritätenkabinetten oder vergleichbaren Sammlungen Aufbewahrte - verdiente jemals das Epitheton "Kunst" in dem uns geläufigen, neuzeitlich emphatischen Sinne.
An etwas Zwiespältiges innerhalb künstlerischer Hinterlassenschaft geriet man erst mit Entdeckungen in Süddeutschland und Frankreich in Gestalt der Höhlenmalereien aus vorgeschichtlicher Zeit.18 Gegen den zeitweiligen Verdacht von Fälschung erhaben, hat sie sich aber als seriöses Zeugnis einer wahrhaften vorgeschichtlichen kulturellen Leistung erweisen lassen. Inzwischen standen zudem Vergleiche mit der Kunst "primitiver" Völker des inneren Afrikas - der Buschmänner vorzüglich - oder Ozeaniens zur Disposition (Abb. 5, 6). Noch lange tat man sich indessen selbst in Fachkreisen schwer, eine Formulierung wie die besagte "primitive Kunst" als selbstverständlich zu akzeptieren.19 Die Einwände von Wilhelm Wundt (1905) und Johannes Kretschmar (1910) zeigen dies - wenn auch beide gute Gründe dafür anführen können, prähistorische Darstellungen nicht als "Kunst" zu bezeichnen, sondern sie als "Erinnerungsbilder" einer anderen Sorte von menschlich-kulturellen Produkten zuzuordnen.20
Selbstverständlicher hatte sich der Begriff "Kunst der Naturvölker" bereits eingeprägt.21 In beiden Positionen ging es demnach nie darum die Wertehierarchie zu zerstören. Vielmehr rangen sie um ein vergleichbares Ziel. Sie wollten dem Auszeichnung zusprechen, was bisher vermeintlich außerhalb des als kulturell wertvoll Eingeschätzten lag. Dieses Ziel erreichten sie durch entsprechend unterschiedliche Zuweisung evaluierter Bedeutunsgelemente, die dieses wiederum vom verbleibenden profanem Raum abhob. In diesem Nobilitierungsprozeß wurde das bislang als vulgär oder profan Mißachtete gleichermaßen durch Interpretation als dem Kunstraum zugehörig erklärt.
Doch zurück zum Festereignis von 1907.
Max Verworn erfüllte alle denkbaren Erwartungen, die er offensichtlich selbstbewusst genug mit der Formulierung seines Vortragstitels zu erwecken wusste. Einleitend stellte er fest: "Die künstlerische Produktion ist ein Ausdrucksmittel des Menschen für Empfindungen und Vorstellungen, für Gedanken und Gefühle." Ein durchaus modern anmutender Satz.
Das war Signal seiner Kampfansage gegen Wundts Verdikt, jegliches "Erinnerungsbild" aus dem Kreis der Kunst auszuklammern. Die akademische Ästhetik hatte das "movere" weit hinter das "docere" zurückgestellt, sich somit von allem modernen Subjektivismus - zumal schon vor der Romantik - abschirmend. Alte Polemiken gegen jegliche "Gedankenkunst" - seit dem späteren 16. Jahrhundert ein durchgängiger klassizistischer Stereotyp - tritt uns hier ganz offenkundig in anderer Gestalt wieder entgegen. Mit seiner allgemein gehaltenen Formulierung ist durchaus zusammengefaßt, was als Grundlage für moderne Kunst bis heute nicht nur bei Laien für zutreffend gehalten wird.
Seit wann galt dieser Satz so pur und radikal vor 1907? Ansatzweise läßt er sich in dem Terminus von der "maniera" ausmachen, einem Terminus entwickelt in der Kunsttheorie des 16. Jahrhunderts. Dort bezeichnet dieser zunächst einen persönlichen Stil, eher die Machart von Kunst, später dann auch spezifische Merkmale des Persönlich-Inhaltlichen, bis hin zu idealen Charakter-Eigenschaften des Künstlers selber.22 Mit der subjektiven Wende der Ästhetik in der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts erst, in der nicht mehr das Kunstwerk als eine kompositorische Konstruktion im Vordergrund der Überlegung stand, sondern die Perspektive an der Wirkung beim Betrachter ausgerichtet wird, tritt die psychologische Argumentationsweise ins Zentrum der Diskussion. Wie wirkt eine Komposition? Wie kann eine erwünschte Wirkung komponiert werden? Das waren nunmehr zentrale Fragen. Schließlich erst in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, von Winckelmann eingeleitet, wurden diese mit dem Aspekt der Rolle des gesellschaftlichen Umfeldes für die Herausbildung hervorragender Kunst der Vergangenheit zusammengeführt. In der Romantik spitzte sich die ästhetische Diskussion erneut ausschließlicher auf die der Wirkung zu.
Was muß ein Künstler gefühlsmäßig erleben, um überhaupt Kunst zu machen? Welche Lebensbereiche sind ausgezeichnete Stimulantien für künstlerische Inspiration? Künstler entdeckten z.B. für sich Natur neu als eine solche stimulierende Inspirationsquelle. Dabei war es wesentlich die Wirkung, die bestimmte Naturereignisse auf die seelische Gestimmtheit auslösten, oder aber nur das als Simile benutzte sprachliche Bild eines Naturereignisses, das geeignet erschien, seelische Empfindungen beschreibbar zu machen. Ebenso galt das persönliche Erlebnis individuellen Leides oder von Liebesfreunden als kunstwertes Inspirationspotential. Doch? Erst die rational-kontrollierte, aus der Distanz zum Ereignis beherrschte Versprachlichung des Ergebnisses dieser Introspektion - des nach Innen blickenden Selbstversuchs - verhalf zur Disposition von Kunstwerken. Von diesen erhoffte man, daß der Leser, bzw. Betrachter ebenfalls von Stimmungen aufgewühlt oder, im Gegenteil, besänftigt werde, wie sie der Künstler angesichts natürlicher Außenumstände erfahren hatte. So formulierte es Lessing 1767, eine Passage aus Horaz, Ars poetica umdeutend.23 Auch dies war wesentlicher Bestandteil der romantischen Ästhetik und Kunsttheorie.
Ich will hier nicht noch einmal auf die besonderen ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen eingehen, die für diese Zuspitzung des subjektiven Moments förderlich, wenn nicht gar unerlässlich gewesen sind. Hier nur der Hinweis auf die neue absolute Konkurrenzsituation, die durch die Auflösung der Zünfte für fast alle Kunstbereiche einen neuen, den freien Markt hervorbrachte, der den einzelnen Künstler in völlige Selbstverantwortung für seine Produktion und deren Absatz versetzte. Genaueres dazu findet sich an anderer Stelle.24
Dem stand im 19. Jahrhundert die staatlich kontrollierte akademische Kunstausbildung gegenüber. Diese war vom Prinzip her eine konservative. Themen und Machart unterlagen einer festgefügten Hierarchie. Die als hochrangig geltenden Bildaufgaben (Historie - biblische, mythologische, geschichtliche Sujets) erschienen für die neue Art der subjektiven Orientierung wenig geeignet. Die hierarchisch tiefer angesiedelten Themenbereiche (Portrait, Genre, Landschaft) erwiesen ihre Tauglichkeit, die Anliegen einer neuen romantischen Kunst, sowohl in der Literatur als auch in der bildenden Kunst, darstellbar zu machen. Dieser Antagonismus bedingte eine Reihe von ständig sich wiederholenden Revolten der jüngeren Generation gegen das etablierte System: die Sezessionen.25
Freie Konkurrenz auf dem Kunstmarkt ließ es indes zu, daß alle Varianten zwischen einer repräsentativen Staatskunst bis hin zur individuell orientierten intimen Kunstproduktion und deren Kommentare sich auf dem Markt behauptet hatten. Sie fanden jeweils einen entsprechenden Interessenten- und Abnehmerkreis. Dennoch tat sich die jeweils modernste Kunst besonders schwer, Absatz und Anerkennung zu finden. Besonders krass trat das in Frankreich in Erscheinung. Die jährlichen Salons in Paris - jurierte Ausstellung in den Räumen der Akademie - entschieden darüber, wer in der öffentlichen Diskussion präsent war und wer nicht. Die Ausbildung an der Akademie brachten alle Vertreter später konkurrierenden Kunstrichtungen in ihrer Jugend gleichermaßen hinter sich. Doch erst danach kam es zur erforderlichen Entfaltung eines persönlichen Stils. Dabei scheiterten häufig die uns heute geläufigen Großen des französischen 19. Jahrhunderts an der Jury dieser Salons. Courbet ebenso wie Gaugin und Munch sind als Fälle bezeichnend. Vergleichbares brachte der Zöllner Rousseau in seinem kleinen Garten am Rande von Paris auf die Leinwand. Aus Kohlköpfen und Wildkräutern zauberte er sich eine phantastische Traumwelt, voller guten Geister und unheimlicher Wesen. Die Schaffung ganzer Welten als Produkt einer alternativen Phantasie war das erklärte Ziel dieser Künstler. In der als symbolistischen klassifizierten Malerei von Odile Redon fand diese Ausrichtung ihren bezeichnenden Höhepunkt. In den Farben leuchtend und ungemischt, in den Gestalten radikal anti-naturalistisch verwirklichten sie alle das Ziel der Entfaltung des freien Spieles der Phantasie, also genau jenes, das Verworn 1907 mit seinem eingangs zitierten Satz auf den Begriff brachte.
Baudelaire auf der einen, Töpffer und Ruskin auf der anderen Seite verdanken wir die ersten Versuche, die Originalität kindlich-bildlicher Äußerungen als vorbildlich zu begrüßen. Ihre Ideen brauchten mehr als eine Generation, um über den engeren Kreis der jungen Künstler hinaus bekannt zu werden und bis in die Diskussion über den Zeichenunterricht hinein Verbreitung zu finden.26 Zu ihrer Zeit fehlte noch eine entsprechende Begrifflichkeit für die allgemeine Verständigung über den Inhalt, die besondere Leistung usw. Sie wurde erst in den folgenden Jahren und Jahrzehnten schrittweise ausgebildet.
Und dennoch ist der Vortrag von Verworn ein für uns aufschlußreicher Beitrag zu diesem Problemkreis: Er führt die Zeichnungen von Kindern als Fall-Beispiel an - zum ersten Mal von Corrado Ricci 1887 anhand von einschlägigem Material als "Kunst" zur Debatte gestellt.27 Verworns Urteil über sie war wohlwollend verständnisvoll. Er führte ein wichtiges Argument zu ihrer Erläuterung und ihrem Verständnis ein, wenn er als Paläonthologe den Zugang zu einer "inneren Wahrheit" (wie ihn Baudelaire als Literat vor ihm und als Künstler Kandinsky wenig später vorrangig der Kinderzeichnung unterstellt) distanzierter formuliert. Das macht seinen Vortrag aus unserer Perspektive überhaupt erst bemerkenswert.
Nun aber zu seinen Argumenten:
Verworn unterscheidet zwei Phasen der prähistorischen bildenden Kunst. Die ältere, die bildende Kunst des Paläolithikums, kennzeichnet er als "physioplastisch". (Abb. 5 - 8). Die der jüngeren Phase, des Neolithikums, die neu-steinzeitliche Kunst bis hin zur Eisenzeit, bezeichnet er als "ideoplastisch". (Abb. 9 - 10) Was verstand er darunter?
"Physioplastisch" ist nach seiner Definition eine Zeichnung dann, wenn das dort Dargestellte "der Natur genau nachgebildet" sei. Naturalistisch, realistisch oder einfühlend wären zeitgenössische begrifflichen Äquivalente, die aber von Verworn weder verwendet wurden, noch verweist er auf sie. Und dem nachgeborenen Leser kommt Wilhelm Worringers Titel "Abstraktion und Einfühlung" in den Sinn, unter dem dieser im Jahr zuvor (1906) seine Dissertation in Bonn eingereicht hatte.28
"Diese Ausführung", sagte Verworn zuvor, "vollzieht sich beim Zeichnen nach der Natur unter stetiger Kontrolle durch die gegebenen Gesichtsempfindungen und wird durch diese fortwährend korrigiert. Die Zeichnung wird in diesem Falle je nach dem durch Übung erworbenen Grade der Ausschleifung der sensorischen und motorischen Bahnen, d.h. der Beobachtung und Handgeschicklichkeit eine mehr oder weniger naturgetreue Wiedergabe des gesehenen Objektes sein."29
Das klingt in dieser Vereinfachung nach einer mechanistisch-analogen Modellvorstellung vom Wahrnehmen und Zeichnen. Mechanistisch ist sie in Hinsicht auf die Vorstellung im Gehirn würde ein Abbild des Objektes hergestellt, das etwa einer photographischen Aufnahme vergleichbar sei. Dieses brauche nun lediglich ohne zwischenzeitliche Einwirkung irgendwelcher inneren Verarbeitungsvorgänge in den senso-motorischen Apparat übertragen, schließlich mit der Hand auf der Zeichenfläche ausgeführt zu werden. Analog erscheint das Modell insofern, als keinerlei qualitative Umsetzung des Gesehenen angesprochen wird, sondern lediglich eine analoge psycho-motorische und schließlich nur noch eine muskel-mechanische. Damit argumentiert er im Grunde genommen noch aus einer Warte der Psychologie des 17. Jahrhunderts (Descartes) und der der kunstpädagogischen Praxis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verworn gibt in einer Anmerkung den Hinweis auf einen eigenen Aufsatz mit dem Titel: "Mechanik des Geisteslebens", in dem er eine "Analyse der verschiedenen Vorgänge des Geisteslebens nach den neueren Erfahrungen" vorstellt. Dies weiß also auch Verworn. Er schränkt nachfolgend sein bisheriges, stark vereinfachtes Modell mit folgender Beobachtung ein:
"Aber schon bei dem direkten Abzeichnen nach der Natur drängen sich mehr oder weniger Momente ein, die geeignet sind, die Naturwahrheit der Zeichnung zu trüben. Jeder, der Erfahrungen gesammelt hat beim Abzeichnen von komplizierteren Objekten nach dem mikroskopischen Bilde, wird beobachtet haben, wie ungeheuer leicht man dazu verführt werden kann, manches in der Zeichnung darzustellen, was in Wirklichkeit nicht beobachtet werden kann, weil es gar nicht vorhanden ist. Es gehört die allerstrengste kritische Kontrolle dazu, um das zu vermeiden. Wie kommt das? Das liegt zweifellos daran, daß man bei allen komplexen Gesichtseindrücken immer nur bestimmte Bestandteile des Objektes mit Bewußtsein wahrnimmt, nie alles, was sich im Gesichtsfelde des Auges befindet. Für die zeichnerische Wiedergabe ist aber der Zusammenhang der wirklich beobachteten Elemente notwendig und so ergänzt man das Fehlende. Der kritische Zeichner wird es durch fortwährende, erneute Beobachtung ergänzen, der weniger gewissenhafte nach Maßgabe seiner Kenntnisse, die er durch Abstraktion aus einer großen Anzahl von Beobachtungen an verschiedenen Exemplaren des Objektes, aber nicht aus der speziellen Beobachtung des einzelnen, gerade vorliegenden Exemplares gewonnen hat, das durchaus immer seine eigenen spezifischen Eigentümlichkeiten besitzt."30
Er schränkt damit das zuvor als analog konzipierte Modell insofern ein, als er zu bedenken gibt, daß kulturelles Wissen die Wahrnehmung strukturiert. Oder aus einer anderen Perspektive formuliert: Im Gehirn passiert offensichtlich etwas mit dem Wahrgenommenen, das mit einer rein mechanistischen Übertragung des vor den Augen liegenden Objektes in den senso-motorischen Apparat der zeichnenden Hand nicht erklärt werden kann. (Abb. 11) Für ihn ist das "die durch Abstraktion aus einer großen Anzahl von Beobachtungen an verschiedenen Exemplaren des Objekts" gewonnene Kenntnis. Vorgängige Kenntnis oder kulturelles Wissen schaltet sich also zwischen Beobachtung und zeichnerische Wiedergabe ein.31
Wie ist das aber nun mit seiner Behauptung von der "physioplastischen" Zeichnung, die eine unverfälschte Wiedergabe nach der Natur sei, wie sie in der paläolithischen Kunst seiner Formulierung nach vorliegt? Nimmt man seine Worte ernst, dann kann nur durch ständige erneute Kontrolle am Objekt jede Abweichung vom Beobachteten vermieden werden. Er setzt also voraus, daß das Objekt beim Zeichnen unmittelbar vor den Augen des Zeichners solange zur Verfügung steht, bis die Zeichnung vollendet und abgeschlossen ist.
Sehen wir uns darauf hin die paläolithischen Beispiele an, auf die er sich bezieht und von denen er zahlreiche in seinem Text abbildet.32 Schon ein einziger Fall eines Tieres oder eines Jägers - daraus bestehen die Themen der Höhlenmalerei zum überwiegenden Teil - dessen Wiedergabe eine Aktion erfaßt (Abb. 6, 7), kann wohl kaum aus unmittelbarer Beobachtung am Objekt gewonnen sein, noch viel weniger aus einer ständig kontrollierenden Korrektur dieser Beobachtung am Objekt.
Ausgeprägte zeichnerische Erfahrung und gepaart mit einem guten Erinnerungsvermögen müssen die erforderten Qualitäten eines Zeichners derartiger Kunst sein.33 Das aber ist kulturelles Wissen, über lange Lebenszeit erworben und ständig erneuert, trainiert und produziert. Damit ist ein Abstraktions-Vorgang verknüpft, wenn erworbenes Wissen zur Überprüfung und nachfolgenden Korrektur des zu Zeichnenden eingesetzt wird. In der Tat kommt Verworn in einer späteren Passage dazu, einschränkend dann vom "unmittelbaren Erinnerungsbild" zu sprechen. Ist aber nicht "Erinnerung" ein Vorgang, der ein Moment des Abstrahierens einschließt? Mit dieser Einlassung wäre im Grunde genommen Verworns ganze Hypothese hinfällig und nicht weiter bedenkenswert, wenn er nicht auf etwas anderes noch zu sprechen käme, nämlich der Versuch, den Übergang zur nachfolgenden neolithischen Kunst zu erklären.
Diese unterscheide sich von der paläolithischen durch eine stärkere Schematisierung oder Stilisierung (Abb. 9, 10). Für sie führt er den unterscheidenden Begriff "ideoplastisch" ein. Hier, so sagt er, spiele das Wissen um die Objekte der Darstellung, jenes kulturelle Wissen also eine dominante Rolle. Aber wieso kommt es zu derartigen Schematisierungen durch kulturelles Wissen nach dem Entwurf von Verworn? Gibt es zeitgenössisch vergleichbare Überlegungen bei Anderen, mit denen er sich in guter, abgesicherter Gesellschaft fühlen konnte? Zweifelsohne spielt die Kenntnis der von Theodor Lipps entwickelte Theorie der Einfühlung eine maßgebliche Rolle, die Verworn hier im Folgenden mit dem ihm vertrauten historischen Material zu füllen unternimmt.34
Nachdem er mit der gebotenen Emphase der Bescheidenheit seine Beschäftigung mit dem Problemfeld beschrieben hat, fasste er zusammen:
"Zahlreiche Ausgrabungsreisen nach den klassischen Fundstellen, sowie Studienreisen nach den großen Sammlungen Frankreichs haben mir allmählich ein immer eingehenderes und schärferes Bild von der Kultur der alten Mammut- und Bisonjäger [sic!] der Rentierzeit gegeben. Wichtige Gesichtspunkte habe ich gewonnen aus der vergleichenden Ethnologie. Unschätzbares Material lieferten mir ferner Experimente, die unter planmäßig ausgewählten und systematisch variierten Versuchsbedingungen über zeichnerische Wiedergabe gesehener [sic!] Objekte angestellt wurden und zwar an Schulkindern entlegener Dörfer Thüringens und der Rhön."35
Wenn nämlich die fortwährende kontrollierende Beobachtung des zu zeichnenden Objektes überhaupt ausgeschlossen sei und nur nach dem Gedächtnis gezeichnet wird, könne nur die Vorstellung des Erinnerungsbildes gezeichnet werden, und wenn diesem keine eigene Anschauung unterläge käme es zu abstrahierenden Entstellungen (Abb. 11). Auf der assoziativen Kombination der einzelnen Vorstellungen beruhe alles Denken. "Je reicher das Vorstellungsleben entwickelt ist, um so größer wird die Gefahr sein, daß die Vorstellung ... durch Assoziationen von den verschiedensten Faktoren her verändert wird, also durch unzählige Faktoren, die nicht der unmittelbaren, sinnlichen Wahrnehmung des Gegenstandes entsprungen sind. ... Es wird daher in der Zeichnung nicht das reine Erinnerungsbild des Gegenstandes zum Ausdruck kommen, sondern mehr oder weniger das, was der Zeichner von dem Gegenstande denkt und weiß. Es entwickelt sich so im Gegensatz zur physioplastischen eine durchaus ideoplastische Kunst."36
Kinderzeichnungen liefern dafür nun einen hervorragenden Beleg. Die Kunst der Kinder sei von Anfang an ganz und gar ideoplastisch (Abb. 12). Aber Kinder werden von frühauf "... durch die Erziehung mit einem ungeheuren Vorstellungsmaterial erfüllt, das niemals ihrer sinnlichen Beobachtung entsprungen ..." sein könne. Die motorischen Fähigkeiten blieben gegenüber der Entwicklung des Vorstellungsvermögens im Hintertreffen. Mit ihren Zeichnungen - die er sich nicht scheut "Kunst" zu nennen - brächten sie dies in erstaunlicher Weise zum Ausdruck. Wenn ein Kind eine Gestalt zeichne, bringe es darin alles zum Ausdruck, was es darüber gelernt habe. Es zeichne also das, was es wisse, nicht das was es sähe. "Interessant sind in dieser Beziehung ... die ... Kombinationszeichnungen, die das Kind von den Gegenständen dadurch liefert, daß es verschiedene Ansichten desselben Objektes, die man von verschiedenen Ansichten desselben Objektes, die man von verschiedenen Seiten erhält, zu einem einheitlichen Bilde vereinigt." "Kinderkunst ist demnach nicht mit der frühesten Stufe der physioplastischen Kunst der paläolithischen Zeit in Parallele zu setzen, wie man nach dem biogenetischen Grundgesetze zu erwarten hätte, sondern nur mit der reinen ideoplastischen Kunst der späteren Zeit."37
Dieser Gedanke nun, daß die Kinder-Zeichnung überhaupt in Analogie zu Phasen der Kunst der menschheitsgeschichtlichen Frühzeit in Beziehung stehe, das ist der - von Lamprecht angeregte - zentrale Gedanke, den Verworn hier für seinen speziellen Fall verfolgt und nutzt.38 Für die Kinderzeichnung (Abb. 12, 13) folgert er nun umgekehrt, daß sie den Ursprüngen menschlicher Kultur näher stünde als die durch traditionsreiche Regeln bestimmte Kunstausbildung an den Akademien.39 Deshalb hat sich noch jede weitere der modernen Richtungen innerhalb der Kunst des 20. Jahrhunderts zu ihrer Verteidigung und Begründung gerne auf eben jenen Gedanken berufen. Aber mit welchem Recht?
Wie aber konnte innerhalb kurzer Zeit das bislang als unbeholfene Kritzelei mißachtete Zufallsprodukt kindlicher Phantasieäußerungen in den Rang einer hochkarätigen Inspirationsquelle mutieren? Nicht nur die Argumentationsfolge in Verworns Aufsatz, sondern vor allem seine Wortwahl kann uns lehren, diese Mutation nachzuvollziehen. Für die von Erinnerungen und Assoziationen geprägte typische Zeichnung liefere die Kinderzeichnung einen beispielhaften Beleg.
"Die Kunst des Kindes ist von Anfang an durch und durch ideoplastisch. Ich habe meine Experimente gerade an Bauernkindern aus entlegenen Dörfern angestellt, die mehr Gelegenheit zur Beobachtung der Natur haben und weniger mit Vorstellungsmaterial durch die Erziehung überfüttert werden, weil ich sehen wollte, ob man hier nicht wenigstens in einem früheren Entwicklungsstadium physioplastische Charaktere der Zeichnung finden würde."40
Nach der Analogie von Entwicklung kultureller Fähigkeiten beim Kinde und der der Menschheit insgesamt zu suchen war also die Ausgangsthese. Woher diese Hypothese abgeleitet war, werden wir noch zu sehen haben. Er fährt fort:
"Aber selbst hier ist zu der Zeit, wo überhaupt eine erkennbare Zeichnung [sic!] von den Kindern hergestellt werden kann, der Charakter derselben ein durchaus ideoplastischer. Selbst auf dem Lande werden die Kinder bereits in den frühesten Jahren durch die Erziehung mit einem ungeheuren Vorstellungsmaterial erfüllt, das niemals ihrer sinnlichen Beobachtung entsprungen ist. Wie bei unserer gesamten Erziehung, so hat auch hier die weitaus größte Fülle des geistigen Inhalts nicht direkt als Beobachtungsprodukt durch das Tor der entsprechenden Sinne ihren Einzug gehalten. Die sinnliche Beobachtungsgabe ist ebenso wie die motorische Geschicklichkeit im Vergleich mit dem hoch entwickelten Vorstellungsleben völlig zurückgeblieben. Die Kunst des Kindes bringt das in erstaunlicher Weise zum Ausdruck. Wenn das Kind ein Pferd zeichnet oder eine Kuh oder einen Mann, so zeichnet es alles, was es davon gelernt hat. ... Besonders charakteristisch sind die Fälle, in denen das Kind die Körperteile durch die Kleidungsstücke hindurch sichtbar zeichnet, wie das vielfach auch in der ganz ideoplastischen Kunst des alten Ägypten geschah. Das Kind zeichnet dabei, was es weiß."41
"So entstehen Menschenzeichnungen mit einzelnen Körperteilen en face, mit anderen im Profil, wie das auch in der ideoplastischen Kunst der Ägypter wieder zur Regel gehört. [...] Die Kinderkunst ist also nicht mit rein physioplastischer Kunst der paläolithischen Zeit in Parallele zu setzen, wie man nach dem biogenetischen Grundgesetze hätte denken können, sondern vielmehr mit der streng ideoplastischen Kunst der späteren Zeiten."42
Hört man genau hin, finden sich in diesen beiden Passagen die ausschlaggebenden Argumente gebündelt. Erstens sagt er, daß die naturgetreue Nachzeichnung nur erst als Zeichnung Geltung beanspruchen kann. Wir wissen aber längst, daß Kinder davor noch mindestens in zwei genau unterscheidbaren Entwicklungsphasen Zeichnungen produzieren, die nicht mit dem Verwornschen Modell in Einklang zu bringen sind. Das ist die sogenannte "Kritzelphase" und darauffolgend die Phase der "Kopffüßers" (Abb. 14).43 In der ersten entstehen höchst freie Liniensequenzen aus der Körpermotorik, deren Rhythmus gleichsam unwillkürlich niedergeschrieben wird. Dabei lassen sich zwei Bildtypen unterscheiden: Das sogen. Urknäuel und das Urkreuz. Dann stellt er fest, daß Geistiges in der "weitaus größten Fülle" kein Ergebnis der Beobachtung sei, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Erziehung, d.h. der willentlichen oder unwillentlichen Aneignung von kulturellem Wissen. Mit anderen Worten: Man sieht nur, was man weiß, wofür man über einen geeigneten Begriff verfügt. Mit dieser Prämisse eröffnen sich drei Perspektiven, unter denen seine Thesen und Argumente zu lesen sind.
Das ist erstens die universalgeschichtliche Diskussion durch Lamprecht, der das biogenetische Grundgesetz als heuristisches Prinzip in die Kulturgeschichte einführte. Verworns Vortrag steht im Kontext der durch Lamprecht in Leipzig organisierten Sammlung von Kinderzeichnungen.44 Dessen Ziel war die Konfrontation des biogenetischen Grundgesetzes mit der geistigen Entwicklung des Individuums, unter dem Begriff vom "Rekapitulationsgedanken" formuliert: Die Ontogenese sei eine vergleichsweise kurzzeitig wirksame und schnelle Rekapitulation der Phylogenese. Lamprecht wollte empirisch auch für die gesamte Kulturgeschichte verifizieren, was ideengeschichtlich bereits am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert worden war, wie etwa 1780 von Lessing: "Eben die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelangt, muß jeder einzelne Mensch (der früher, der später) erst durchlaufen haben." 1891 fordert Lamprecht im Rahmen der universalgeschichtlichen Debatte dazu auf die psychologischen Gesetze zu ergründen, nach denen die Entwicklung der Völker in der Vergangenheit sich vollzogen habe und heute noch vollziehe. Dazu gründete er 1909 ein Institut in Leipzig. Dort wurden für dieses Forschungsvorhaben rasch über hunderttausend Kinderzeichnungen aus aller Welt zusammengetragen.
Als zweites haben wir zu überlegen welche Folgen die Bedürfnisse der zeitgenössischen Industrie für die Wünsche bei der Ausbildung von Zeichnern zeitigte.
Nach Rousseau und Pestalozzi hatte die Kinderpsychologie in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts eine pädagogische Reformbewegung auch in den deutschen Ländern zur Folge, die sich besonders am Zeichenunterricht festmachte. Erst zwischen 1863 und 1870 kam es zur endgültigen Umsetzung des von Humboldt nach Pestalozzis Grundsätzen geformten Zeichenunterrichts. Diese bestanden bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in mechanischem Drill auf reinliches, mechanisches Zeichnen geometrischer Elemente und Figuren (Abb. 15). Aber die Zeiten waren fortgeschritten, die Industrie benötigte andere Ausbildungsqualitäten.45 Zahlreiche Reihenuntersuchungen - für Verworn offensichtlich Vorbild - führten zu Publikationen, in denen die Eigenständigkeit kreativer Fähigkeiten von Schulkindern ergründet werden sollte. In diesen Untersuchungen schlugen sich Überlegungen nieder, die 1856 und 1868 in Frankreich und durch Ruskin in England formuliert worden waren. Deren Umsetzung scheiterte zwar vorerst an der schulischen Praxis, bestimmten aber offenkundig die Diskussion.
Davon sind hier zwei Argumente von Wichtigkeit: Mängel sind als Quelle oder doch als Ausweis von Originalität zu werten, und die zeichnerische Skizze ist Ausdruck des individuellen Charakters. Letzteres ist eine Entdeckung bereits des 16. Jahrhunderts, deren kunstpädagogische Konsequenzen erst zu diesem späten Zeitpunkt ansatzweise verschiedentlich angesprochen wurden.46 Aus eben jener Diskussion läßt sich - drittens - Verworns Unterscheidung von physio- und ideoplastisch ableiten: Wenn unter "Physioplastisch" der Vorrang des Wahrnehmens verstanden wird, wird dieser Vorrang in der Kunstpädagogik erst spät im 19. Jahrhundert als fundamentale Disposition zum Zeichnen formuliert.47 Dem ist das "Ideoplastische", vorrangig vom Wissen erlernbarer Regeln bestimmte, entgegengesetzt. Und dies entspricht der älteren kunstpädagogischen Intention und schulischen Praxis.
Aber zurück zu Kindern und Jägern. Zu Recht müssen wir gelten lassen, daß es Unterschiede in der Malerei und Zeichnung des Paläolithikums und - zudem je nach Fundort - des Neolithikums gibt. Das ist unbestreitbar. Verworn hat völlig zu Recht darauf aufmerksam gemacht. Nur daß er diesen Unterschied unausweichlich als eine Abfolge in der Zeit interpretieren wollte. "Entwicklung" bedeutete hier bei ihm die Rettung der Vorstellung, daß Älteres immer von geringerer geistiger Potenz und gestalterischer Dichte zu sein habe.
Dieses entwicklungsgeschichtliche Axiom kann er trotz aller seiner subtilen Differenzierungen der Beobachtung an den Zeugnissen nicht in Frage stellen.48 Gleichzeitigkeit ist für ihn nicht vorstellbar. Das aber ist die Konsequenz aus dem Versuch der Übertragung der Rekapitulations-These, die bei ihm selber ebensowenig, wie z.B. bei Worringer thematisiert wurde, wiewohl gerade diese Hypothese nicht erst seit 1906 eine hitzige Debatte auslöste, als Arnold Braß in Leipzig ein Buch veröffentlichte, in dem er Haeckel der Fälschung seiner Belege bezichtigte (Abb. 16 - 17). Verworn geht darauf aber nicht ein. Er folgerte in Anlehnung an Wundts Universalidee: "Alles Theoretisieren und Spekulieren war dieser [früheren] Kulturstufe [des Paläolithikums] vollkommen fremd, und daher waren die Bedingungen für die Entwicklung einer ideoplastischen Kunst noch gar nicht gegeben."49
Verführt wurde er offensichtlich zu diesem Argument in seiner kritischen Distanz zum Naturalismus: "Es ist ein großer Fehler, den wir machen, wenn wir uns durch die Schwierigkeit, die selbst heute der Durchschnittsmensch bei dem Versuche einer naturalistischen Reproduktion gesehener Objekte empfindet, zu der Ansicht verleiten lassen, daß der Naturalismus immer unbedingt eine höhere Entwicklungsstufe des künstlerischen Könnens bedeuten müsse, als die verzerrte, verfratzte, bizarre, phantastische Darstellungsweise der meisten Naturvölker."50 Lesen wir auch diesen zweiten Teil des Arguments als eine These zur zeitgenössischen Kunst, erkennen wir hier bereits den Ansatz einer verständnisvollen Verteidigung der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts gegen den akademischen Naturalismus, denn sie sei von "unübertreffliche[r] Naturwahrheit..." und "fast immer realistisch...".51
Wo aber bleibt nun beim Kinde die der paläolithischen Kunst analoge Entwicklungsphase, die seinem Modell entsprechend doch vor der ideoplastischen Phase aufzufinden sein müßte? (vgl. Abb. 14) Sein durchaus einleuchtend erscheinendes Argument lautet: Die können wir beim Kind an Zeichnungen deswegen nicht ausmachen, weil in dem Moment, zu dem es mental die entsprechende Entwicklungsphase durchmache, körperlich noch nicht in der Lage sei, das Beobachtete motorisch so umzusetzen, daß die Zeichnung völlig seiner Beobachtung entspräche.52
Daß aber auch die entgegengesetzte Überlegung anzustellen wäre, nämlich: Daß das Kind diese Phase nicht vor, sondern unter bestimmten äußeren Bedingungen erst nach der ideoplastischen Phase erreicht, kommt ihm unter dem Dach der Haeckel/Lambert-Hypothese nicht in den Sinn. Da er andererseits völlig im Banne einer traditionellen Mimesis-Vorstellung argumentierte, läßt ihn die Konsequenz eines anderen Gedankens nicht erfassen: Daß nämlich "physioplastisch" auch bezeichnen kann, daß das Kind vor der ideoplastischen Zeichnung physioplastisch eine innere Befindlichkeit darstellen könnte! Und das wäre der entscheidende Verbindungsgedanke zur modernen, ihm zeitgenössischen Kunst etwa Redons oder später der von Max Ernst gewesen, das Anliegen vieler Expressionisten ebenso.
1914, auf der 15. Hauptversammlung des Landesvereins akademisch gebildeter Zeichenlehrer Preußens in Bonn, hielt Verworn - inzwischen an das Physiologische Institut der Universität Bonn berufen - einen weiteren Vortrag, den er ganz unter den Blickwinkel der "Ideoplastischen Kunst" stellte. In ihm behandelt er "... die spezielle Psychologie der von der Naturwahrheit abgewandten Kunst der späteren prähistorischen Perioden, ferner der heutigen primitiven Stämme, der historischen Zeiten, der modernen Expressionisten und Futuristen, und endlich des Kindes."53
Ein Gutes habe die erbitterte Kontroverse um die neue Kunst gehabt: "Sie haben uns veranlaßt, die bisherigen Vorstellungen von dem, was eigentlich Kunst ist, einmal gründlich zu revidieren.... Und schon spricht man von Kunst, wo es früher als Blasphemie gegolten hätte, diesen Ausdruck zu gebrauchen."54 Denn, so seine überraschende Synthese der Formulierung des Auf und Ab des Kunstgeschehens seit der Prähistorie und der Antike bis in die Neuzeit und Gegenwart:
"Die Kulturentwicklung ist gewaltig fortgeschritten, und dennoch erscheint die Kunst degeneriert!"55 Aber sie sei dennoch - oder gerade deswegen - "... eine unschätzbare Quelle für die Beurteilung geistigen Lebens." Mit ihr könne man "... die verborgendsten Winkel des Empfindens und Denkens und Fühlens erleuchten ..."56
Damit vertritt er eine exponiert expressionistische Kunsttheorie, die einen derartigen Blick auf die Person erlaube, als ob deren Innerstes bloßgelegt sei. Diese teilt ihr Anliegen mit der von Klages vertretenen Graphologie, mit der zeitgenössischen Physiognomik - etwa Bühlers - und der Psychoanalyse der Freud-Schule.57 An dieser Stelle aber wendet er sich offen gegen Lamprecht und Kretzschmar58, die, unter Berufung auf das biogenetische Grundgesetz Ernst Haeckels, einen "... rücksichtslosen Parallelismus konstruieren wolle[n] zwischen der Kunstentwicklung in der Geschichte der Menschheit und der Kunstentwicklung im Leben des Kindes."59
Wie wir schon zuvor gesehen haben vertritt auch Verworn eine der anthropologisch-biologischen Deszendenz-Theorie nahestehende Hypothese. Es wäre daher nicht erstaunlich, wenn wir seinen 1907 gehaltenen Vortrag vor dem Hintergrund einer öffentlich und sehr polemisch geführten Auseinandersetzung um das 'biogenetische Grundgesetz' lesen können.
Diese Auseinandersetzung führte Arnold Braß mit Ernst Haeckel seit 1906.60 Der entscheidende Nachweis und der daraus resultierende Vorwurf gegen Haeckel lautete "Fälschung" von Zeichnungen. Das ist sicherlich Grund genug, in unserem Zusammenhang darauf einzugehen. Zum ersten Mal legte Braß in einer Schrift von 1906 im einzelnen dar, was an den Illustrationen zu Haeckels Werken aus den "gefälschten", d.h. durch Fortlassungen, Ergänzungen und willkürlichen Korrekturen zur Stützung der im Text vorgetragenen Thesen gewonnenen Bilder dem Wunschdenken des Auftraggebers oder des Zeichners anzulasten sei. Das Ziel von Braß war, gemäß seiner Funktion im 'Keplerbund'61, den christlich motivierten Kampf gegen den von Haeckel in Jena 1905 gegründeten 'Monisten-Bund' zu leiten und die Aufdeckung der wissenschaftlichen Schwächen und Inkonsistenzen des 'biogenetischen Grundgesetzes' publizistisch zu betreuen.62
Verworn wirft den Vertretern dieser Hypothese vor, daß sie sich mit der Annahme haben retten wollen, vor der von Verworn als "physioplastisch" bezeichneten prähistorischen Kunst habe es noch eine frühere Phase geben müssen.63 Sie solle nun derjenigen entsprechen, die man beim Kinde beobachten kann, bevor es zur "naturalistischen", dem Gesehenen entsprechenden Darstellung gelange - also die "Kritzelphase" etwa (Abb. 14).64 Dagegen verwehrt sich Verworn. Er insistiert auf der inneren Logik der Abfolge von Darstellungen des Gesehenem vor der Darstellung des Gewußten. Dabei hält er wiederholt fest, daß diese spätere "dekadente" Darstellungsform u.a. als Indikator dafür gewertet werden könne, daß die Dualität von Körper und Geist, Materie und Seele erkannt worden sei.65 Dafür sprächen vor allem neben der Kunst die vorher nicht nachweisbaren Bestattungsriten der Frühzeit.66 Verworn klammert also jede bildnerische Äußerung im frühkindlichen Alter aus, die nicht in irgendeiner Weise als abbildend oder ornamental bezeichnet werden kann. Sein Bildbegriff ist insofern traditionell, naturalistisch und eng in der klassischen Mimesis-Theorie befangen. Den entscheidenden Schritt darüber hinaus, nämlich jede vom Menschen, gleich welchen Alters, erzeugte graphische Spur gleichsam als Ausdrucksträger - im Sinne der aktuellen Graphologie-Diskussion - zuzulassen, liegt ihm völlig fern.
Die besondere Wende dieses Vortrags aber ist ein Vergleich modernster Kunstrichtungen mit Erscheinungen in der Kunst des Paläolithikums (Abb. 18 - 20).67
"Einen enormen Umfang aber nimmt die[se] Einführung von Ornamentmotiven in die figurale Kunst an in den späteren Kulturen. Hier liegt z.B. der Ursprung des geometrischen Stils der späten Bronze- und älteren Eisenzeit. Man ist so für die geometrische Linienführung in der Form von Dreiecken eingenommen, daß man die Menschen und Tierdarstellungen in einfache geometrische Formen zwängt. Wir können hier in Analogie zum modernen Kubismus direkt von einem Triangulismus sprechen. Sie sehen, der moderne Kubismus, der ebenfalls aus Begeisterung für gebrochene Linien und Winkeln, sogar alle in der Natur runden Formen in seinem geometrischen Formideal wiederzugeben strebt, ist durchaus keine moderne Kunstrichtung. Der geometrische Ornamentstil, wie er im heutigen Kubismus auftritt, ist aber auch bei außereuropäischen Völkern schon in prähistorischer Zeit zu hoher Ausbildung gelangt."68
Wenn wir vielleicht auch die von ihm gewählten Beispiele der modernen Malerei in einzelnen Fällen gegen einschlägigere, ihm damals nicht zugängliche Kunstwerke austauschen möchten, seine These scheint überzeugend, vor allem wenn man zudem noch bedenkt, daß er auf eine Publikation von 1885 verweist.69
Verweise auf "kubistische" Kinderzeichnungen finden sich gleich im Anschluss. Ich will hier nicht weiter ausführen, was er an einschlägigen Beispielen aus der keltischen und mittelalterlichen Kunst beizutragen hat, interessant sind hier die von ihm gezogenen Schlüsse. Die Vollendung der "ideoplastischen" Kunst sieht er in "... durchaus neue[n] Formgebilde[n], die hier durch Synthese der heterogensten Ideenelemente zustande kommen."70
Belege dafür fand er bei den Melanesiern (Abb. 21), den Polynesiern, den Hopi-Indianern (Abb. 20), in Neu-Guinea und in der ägyptischen Kunst. Beispiele aus der zeitgenössischen Werbung und Karikatur dienen ihm als evidente Vergleiche (Abb. 18, 19). Doch mit dem Angebot eines breiten Bereiches zeitgenössischer bildender Kunst ging er hart ins Gericht:
"An die phantastische Ideoplastik lehnen sich moderne Bestrebungen gewisser Expressionisten und Futuristen an, die darauf hinausgehen, sich womöglich vollkommen von den sinnlich wahrgenommenen Dingen bei der Darstellung zu emanzipieren."71
Mit sogenannten jungen Künstlern oder gar pathologischen Fällen, von denen mehr als genug mit billigen Bluffs versuchten, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, mag er sich - zu Recht - nicht abgeben. Doch die ernsthaften Versuche künstlerisch neuer Tendenzen könne man nicht einfach ignorieren, auch wenn man deren Werke "... als falsch und verkehrt ..." betrachte. Der Kern nun dieser neuen Tendenzen bestehe darin, "daß man gegen die enge Fassung unseres bisherigen Kunstbegriffs Front macht und den Begriff freier und weiter ausgestalten will, indem man der bildenden Kunst die Berechtigung zu erkämpfen versucht, überhaupt
a l l e Bewußtseinsinhalte zum Gegenstand ihrer Darstellung zu machen."72
Diese Bewußtseinsvorgänge seien vor allem solche, denen keine Körpervorstellungen zugrunde liegen. Dazu gehören nach Verworn: Empfindungen, Gefühle und Stimmungen. Er leugnet nicht, daß es sehr wohl möglich sei "innerhalb gewisser Grenzen", die er allerdings für die bildende Kunst sehr viel enger gesteckt sieht, als z.B. für die Musik, durch reine Farbzusammenstellungen oder Linienführung "eine ästhetische Empfindung, etwa die des Wohltuenden, Angenehmen oder des Unangenehmen, Unbehaglichen zum Ausdruck zu bringen."73
Viele "extreme Erzeugnisse" der expressionistischen Kunst ( - und als solche bildet er eine Zeichnung von Gino Severini "Tango" und eine von Wassily Kandinsky, "o.T.", ab74) seien aber schlechterdings unverständlich und nicht imstande, irgendeinen anderen Bewusstseinsinhalt beim Beschauer auszulösen, als den einen Gedanken: "Wie muß es in diesem Gehirn aussehen?" Also wiederum der ständige Pathologie-Verdacht, den er immer wieder geschickt rhetorisch anpeilt, um ihn anschließend umso besser aufheben zu können. Denn er geht davon aus, daß auch diese Künstler ihre Werke ausstellen, damit der Beschauer erkennen möge, was sie darzustellen beabsichtigen, und nicht etwa, was der Betrachter sich zu sehen aufgefordert sieht, eine aus unserer Perspektive gewichtigere Frage. Dies aber könne traditionelle Kunst weitaus besser als die futuristische.
Nunmehr nimmt er seine Zuhörer bei der Hand und läßt sie mit knappen Sätzen wissen, wie denn diese moderne Kunst zustande komme. Eine reine Naturwiedergabe entstehe dadurch, daß weder Assoziationen noch Wissen um den Gegenstand vorhanden seien: das Ergebnis sei "naive physioplastische Kunst", oder aber daß diese bewusst ausgeschaltet oder unterdrückt würden: So käme "bewußte physioplastische Kunst" zustande. Nur so ließe sich das "rein Gesehene" in einer Darstellung festhalten.75 Die moderne Kunst sei in diesem Sinne als ein bewusster Versuch zu verstehen, nur die Assoziationen, nicht aber mehr den zugrunde liegenden Gegenstand oder das Ereignis physisch wiederzugeben. Mit seinen Produkten allerdings käme der Expressionismus oder der Futurismus nicht annähernd an das heran, oder gar über das hinaus, was die phantastische ideoplastische Kunst der primitiven Völker leiste. Ihnen sei es gelungen "mit oder ohne Hilfe von Farben alle Stimmungen, Gefühle und Leidenschaften des Menschen packend wiederzugeben."
In dieser sympathischen und durchaus verständlichen Schlußemphase dieses Teiles seines Vortrags bleibt er allerdings den Nachweis, wie er von den gezeigten Beispielen (Abb. 21) z.B. auf "packende Wiedergabe von Leidenschaften" schließen will, schuldig. Das aber hatten in der Zwischenzeit zahlreiche Künstler der Moderne, wenn auch meist gegenüber der Öffentlichkeit ihre Inspirationsquelle - die kindliche Zeichnung - verheimlichend, in ihrer Praxis durchgespielt, wie die Münchner Ausstellung von 1995 nachhaltig aufgewiesen hat.76 Unser Problem wird es weiterhin bleiben nachzuzeichnen, welche Geladenheit mit Emotionen an dieser - früheren oder auch späteren - Kunst denn für den Betrachter überhaupt noch nachvollziehbar sich erhält. Die historische Gleichzeitigkeit oder Ungleichzeitigkeit aber von bildnerischen Phänomenen in den unterschiedlichsten Phasen der Menschheits- und Individualgeschichte wird sich für viele Bereiche nie ganz klären lassen, weil die materielle Überlieferung nicht hinreichend dicht ist, um eine einfache oder gar eindeutige Entscheidung treffen zu können.