Seit Erwin Panofsky 1924 seinen Vortrag "Die Perspektive als symbolische Form"1 gehalten hat, scheint es, als ob nichts, was irgendwie in oder ums Bild entdeckt wurde, nicht auf einen möglichen Symbolgehalt hin überprüft wurde. Namentlich seit dem "Ende der wissenschaftlichen Perspektive" mit Cézanne2 geriet in der Kritik der künstlerischen Praxis dem Einen zum inszenierten Symbol, was dem Anderen als verwerflicher akademischer Ballast mit Kunst nicht das geringste mehr zu schaffen hatte, zumal es dem Verdikt der Trivialität und der Mechanisierung durch das Foto anheimgefallen war.
Hier ist es vonnöten sich zu vergewissern, was denn Panofsky genauer eigentlich untersucht hat.
Er führte u.a. aus: Die Raumdarstellung "scheint nun an und für sich eine rein mathematische und keine künstlerische Angelegenheit zu sein, denn mit Recht darf man sagen, daß die größere oder geringe Fehlerhaftigkeit, ja selbst die völlige Abwesenheit einer perspektivischen Konstruktion nichts mit dem künstlerischen Wert zu tun hat (wie freilich auch umgekehrt die strenge Beobachtung der perspektivischen Gesetze in keiner Weise die künstlerische Freiheit zu gefährden braucht). Allein wenn Perspektive kein Wertmoment ist, so ist sie doch ein Stilmoment, ja, mehr noch: sie darf, um Ernst Cassirers glücklich geprägten Terminus auch für die Kunstgeschichte nutzbar zu machen, als eine jener "symbolischen Formen" bezeichnet werden, durch die [ - und hier zitiert er Cassirer wörtlich - ] "ein geistiger Bedeutungsinhalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich
zugeeignet wird" [Ende des Zitats nach Cassirer]; und es ist in diesem Sinne für die einzelnen Kunstepochen und Kunstgebiete wesensbedeutsam, nicht nur ob sie Perspektive haben, sondern auch welche Perspektive sie haben.3 Er beschreibt im Fortgang die unterscheidbaren Arten, wie das Verhältnis von Figur, Umraum oder Zwischenraum und Bildfeld sich darstellt; weiterhin referiert er die jeweils korrespondierende, zeitgenössisch gültige philosophisch-theoretische Raumvorstellung, die "jeweils in Geltung stand".4
Ich verstehe das folgendermaßen: mit "geistiger Bedeutungsinhalt" ist diese theoretische Raumvorstellung gemeint, und mit "konkretes sinnliches Zeichen" die "Wiedergabe des Raumeindrucks", der "ästhetische Raum", um zwei der Umschreibungen zu zitieren, die Panofsky verwendet. Wohl gemerkt, an keiner Stelle seines Vortrags wird eine eindeutige Zuweisung zu den von Cassirer entliehenen Termini vorgenommen, sondern der Begriff von der "symbolischen Form" wird an der Stelle zu Beginn des Vortrags eingeführt, an der die Unterscheidung von der "Struktur des psychophysiologischen Raumes" und der "exakt-perspektivischen Konstruktion" ausführlich dargelegt wird. "Von (der) Struktur des psychophysiologischen Raumes abstrahiert die exakt-perspektivische Konstruktion grundsätzlich: Es ist nicht nur ihr Ergebnis, sondern geradezu ihre Bestimmung, jene Homogenität und Unendlichkeit - von der das unmittelbare Erlebnis des Raumes nichts weiß -, in der Darstellung desselben zu verwirklichen - den psychophysiologischen Raum gleichsam in den mathematischen umzuwandeln. Sie negiert also den Unterschied zwischen Vorne und Hinten, Rechts und Links, Körper und Zwischenmedium (Freiraum), um die Gesamtheit der Raum-Teile und Raum-Inhalte in einem einzigen "Quantum continuum" aufgehen zu lassen." usf. 5
Das bisher Zitierte genügt, um die Frage aufkommen zu lassen, wo denn das von Cassirer geforderte relationale Verhältnis von Bedeutung und Zeichen, und zwar als "konkretes" und "sinnliches" aufgewiesen werden kann, das er als konstituierend für seine Vorstellung von "symbolischer Form" definiert, wenn Perspektive nach der Meinung von Panofsky von der sinnlichen Unmittelbarkeit grundsätzlich abstrahiert. Wir könnten an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit Panofskys Vortrag abbrechen, nachdem sich die Unvereinbarkeit seiner Bestimmung des Sachverhalts mit dem von ihm herangezogenen Cassirerschen Terminus hat andeuten lassen, um uns mit der Feststellung zu begnügen, daß hier einer der zahlreichen Versuche vorliegt "Bedeutung" auf einer semantischen Ebene zu konstituieren, die noch dazu mit ungenügender terminologischer Zurüstung bestritten werden soll.
Indes ist in dem weitaus größeren Teil des Vortrags von einer ganz anderen Sache die Rede, nämlich von einer künstlerisch-ästhetischen Praxis oder von der Frage, wie Bedeutung einer künstlerischen Darstellungsweise zukommt, die auf der historischen Voraussetzung einer etablierten Konvention diese schrittweise verändert, und nach ca. 200 Jahren eine neue, auch theoretisch begründete Praxis sich etabliert, die sich als eine ganze Kultur absolut beherrschender Konvention durchsetzt und schließlich für die menschlich-natürlichste Sehweise und deren optimalste Darstellung gehalten wurde.
Hier zeigt sich nun, daß Cassirers Begriff der "symbolischen Form" dazu diente, einen effektiven Titel zu zaubern, nicht aber den historischen Prozess von der Entstehung und einer sowohl praktischen als auch theoretischen Verfestigung neuer Konventionen beschreibend zu erhellen. Diese Diskrepanz nun aber ist Grund genug gewesen, daß im Aachener Semiotischen Kolloquium die Frage aufgeworfen wurde, wie denn "Perspektive" - sei es als Mittel der Bildkonstruktion, sei es als mathematisch-geometrisches Problem, sei es als metaphorische Redeweise - sich unter semiotischem Gesichtspunkt darstellt.6
Fassen wir kurz zusammen, wie sich für die Forschung nach Panofsky die wesentlichen Punkte der Geschichte der bildlichen Darstellung räumlicher Zusammenhänge darbietet7:
Perspektive bedeutet ursprünglich Optik als Teil der Geometrie und das gilt bis ans Ende des Mittelalters. In der Terminologie der florentiner Maler des 15. Jahrhunderts kam eine bedeutungsverengende Verwendung des umgangssprachlichen Terms "prospettiva" in Gebrauch, mit der eine bestimmte Darstellungsweise von Gegenständen gemäß den Gesetzen der Optik oder der Perspektive bezeichnet wurde. So bei Pierro della Francesca: "prospettiva artificalis vel pingendi" oder bei Leonardo als "addirittura accidentale". Der heutige Gebrauch läßt sich zwischen einem restriktiven Gebrauch (als graphische Wiedergabe von realen Objekten auf ebener Fläche mit der Methode der Zentralprojektion mit linearen Mitteln) und einer sehr extensiven Verwendung bestimmen, die sich weniger genau umschreiben läßt etwa: jedweiliges System zweidimensionaler Darstellung mit dem die Dreidimensionalität des physischen Raumes und der Verteilung von Gegenständen in diesem Raum wiedergegeben wird; und drittens eine metaphorische Verwendung des Begriffs Perspektive.8
Verfolgt man die bildlichen Darstellungen, die uns Auskunft über die Umsetzung vom Seheindruck in die Formulierung im Bild geben, dann läßt sich zusammenfassend folgendes feststellen: Dreidimensionalität bleibt in zweidimensionalen Bildwerken der europäischen antiken Kulturen etwa vom Endes des 6. Jh. v.Chr. an auf einzelne Gegenstände beschränkt, so bei den Griechen auf die Bildträger: Schild und Vase, also beides Bildträger mit gekrümmter Oberfläche. Auf ihnen wird die Darstellung des Menschen in Dreiviertel-Ansicht üblich, Schrägansichten von einzelnen Gegenständen tauchen gelegentlich auf, ohne daß sich eine darüberhinausgehende, die ganze Kultur - auch in ihrem zeitlichen Verlauf - bestimmende Konvention feststellen läßt, wie an vielen anderen sehr klaren Darstellungskonventionen gerade in der griechischen Kunst. In der wissenschaftlichen Literatur zur Geschichte der Perspektive werden jedoch immer wieder singuläre Fälle des 6./5. Jh. zu Vorläufern jener Tradition erhoben, die im italienischen Quatrocento kulminiert. Diese Argumentation läßt dabei die Unterscheidung von Konstruktionsprinzip (etwa im Sinne einer lokalen Werkstatt - Tradition) und durchgängig zu verfolgender Darstellungskonvention offen und erklärt diese - angesichts der Menge andersartiger Gesamtproduktion - singulären Fälle zu Vorläufern einer Tradition.
Wir konstatieren einerseits eine hochentwickelte theoretische Optik des Demokrit in der Mitte des 5. Jh. mit den Begriffen der Projektion (EKPETASMATA) und Zeichnungen mit Strahlen (AKTINOGRAPHIA), der des Hipparch, des Tolomeus und Euklids. Andererseits ist der Bericht über die Theaterprospekte des Apollodores von Athen, demzufolge die Fokussierung der Sehstrahlen für einzelne Tabulae Bewunderung erregte, hinreichend glaubwürdig ebenfalls für das Ende des 5. Jh. bezeugt. Die berichtenden Autoren: Plutarch (46 - 12O n. Chr.) und Plinius (starb 79 n. Chr.) sind Zeitgenossen der Zeitenwende und zitierfreudige Kompilatoren, deren Urteil nicht auf alle Denkmäler gerichtet sein konnte. Deutlich läßt sich aber für die griechische Malerei eine thematische Veränderung gegenüber jeglicher älteren oder gleichzeitiger orientalischer und mediterraner Kunst angeben, die in sich je einen konsistenten, d.h. einheitlichen, universalen und irreversiblen Charakter haben, dessen Objekte aber eher in Architektur, Theater und in der Skulptur zu finden sind, denn in der Malerei. Mit anderen Worten: Eine Vorgeschichte der Perspektive in der antiken Kunst zu rekonstruieren scheitert an der allzu geringen Menge der überlieferten Objekte. Die in der Literatur angeführten Beispiele zu ihrer Rekonstruktion entstammen zum überwiegenden Teil der pompejanischen Wandmalerei und lassen sich in der Mehrzahl der Fälle auf Prototypen vom Anfang des 3. Jh. zurückführen.9 D.h. in der augustäischen Zeit gab es eine "Vorzugswahl" für Darstellung eines räumlichen Illusionsismus auf der Basis einer perspektivischen Konstruktion, ohne, daß dieses Darstellungsmittel jedoch einheitlich die ganze römische Kunst bestimmte. Sie war eine der möglichen Darstellungsformen, scheint jedoch als Möglichkeit bis zum Ende des römischen Imperiums nicht mehr in Vergessenheit zu geraten. Diese Festellung hat insofern Gewicht, als damit zum ersten Mal in der Geschichte Perspektive oder perspektivische Konstruktion zur Konstitution von Bedeutung eines Bildes konventionalisiert worden ist. Und nur auf diese ließe sich der von Panofsky geprägte Ausdruck vom "antiken Aggregat-Raum" anwenden.
Die Veränderungsprozesse, die sich in ost- und weströmischen Reichsteilen und später in den nordischen Nachfolgereichen abspielten, können hier insofern kurz dargestellt werden, als es Panofsky gelang - und dieses Ergebnis ist in der Forschung bestätigt worden - nachzuweisen, daß dieser antike Aggregatraum keine gradlinige Fortsetzung fand, sondern einer Veränderung unterlag, deren Ergebnis eine Homogenisierung des gesamten Bildfeldes ausmachte. Auch diesem Ergebnis kommen die Bestimmungen zu, daß sie einheitliches Darstellungsprinzip sind und zu keinem Zeitpunkt bis zum Ende des Mittelalters mehr verlassen werden, d.h. kulturelle Konvention geworden waren.10
Doch dann wird diese Konvention verlassen. Und unsere Frage lautet jetzt: Wie kommt es zur Konstitution von Bedeutung durch die Anwendung von Perspektive?
Bei der Durchsicht der von Panofsky angeführten Beispiele zur entwicklungsgeschichtlichen Genese der Zentralperspektive in der Malerei fällt auf, daß - beschränken wir uns auf den Zeitraum von ca. 1350 - ca. 1450 - perspektivische Elemente sich gleichsam unterhalb der theologisch konventionalisierten Thematik der Bilder aufweisen lassen, ohne daß durch diese Elemente der theologische Sinn konstituiert wird.11 Bedeutung kommt also dem perspektivischen Konstruktionsverfahren zumindest nur in einer bestimmten, vom Experimentieren geleiteten und darin charakterisierten Phase durch den versuchsweisen Gebrauch und nicht zuerst durch Bezeichnung zu.12 Perspektive ist in dieser Phase als syntaktisches Schema zu verstehen, als Zeichen für syntaktisch-logische Sachverhalte, Gesetze und Operationen. Die Bedeutung besteht in den Beziehungen, deren Sinn durch sie ausgedrückt werden.
Was an der Perspektive durch Albertis theoretische Schrift13 und den ständigen Gebrauch zur europäischen Konvention wurde, ist nun nicht unbedingt willkürlich, denn bei der Perspektive handelt es sich nicht um eine Erfindung, sondern um eine Entdeckung, die von verschiedenen Künstlern zu verschiedenen Zeiten - eben auch schon in der Antike - gemacht wurde. Ich wähle ausdrücklich den Terminus "Entdeckung" statt Erfindung. So bezeichnet in der Tat jeder Punkt auch noch in der geometrischen Konstruktion der Zentralperspektive etwa die Kante oder die Stelle eines realen Objektes. In den Bildern aber, die vor der theoretischen Formulierung der Zentralperspektive hergestellt wurden und in denen Teile "zentralperspektivisch exakt" dargestellt wurden, sind es gerade die Abbildungen von realen Gegenständen, die uns das Prinzip wiedererkennen lassen. Zwischen Seheindruck und den Objekten stellt die Perspektive eine regelrechte Ordnung von Ikons als eine gesetzmäßige dar. Erfunden aber wurde eine Methode der Darstellung, nicht aber das Faktum selber. Perspektive ist also ein konsistentes Modell zur Beschreibung "relevanter" Merkmale aus dem Wahrnehmungsfeld und kein Naturereignis. Perspektive ist die Beschreibung ausgewählter Merkmale, die nicht dem je einzelnen Objekt unserer Wahrnehmung eigen sind, sondern die universal sind, jedem Objekt "Angesehen werden können": Oder anders ausgedrückt, der Perspektive liegen diejenigen Objektmerkmale zugrunde, die dazu dienen, Objektrelationen auszudrücken.
Seit.der theoretischen Formulierung durch Alberti aber ist im Prinzip nicht mehr notwendig, daß zum Verstehen dieser Relationen jeweils wieder reale Gegenstände eingesetzt werden müssen - oder ontogenetisch gesprochen, wenn der Heranwachsende einmal das Prinzip erlernt hat, kann er das Prinzip darstellen, ohne seinen Seheindruck als Kontrollinstanz wieder aktiv einsetzen zu müssen. Dann aber scheint es doch, daß hiermit etwas vorliegt, was der syntaktischen Dimension zugehört.
Eine graphische Darstellung perspektivischer Regeln ließe sich anschauen wie ein Bild, dem aber in der Realität kein Objekt entspricht, ein Sachverhalt, der in der Sprachwissenschaft in der Form der Pseudo - Objektsätzen bekannt ist. Diese werden als syntaktische Aussagen über die Sprache verstanden. So müßte eine graphische Darstellung perspektivischer Regeln als syntaktische Aussage über Bilder verstanden werden.
Perspektive ist dann als syntaktischer Operator gekennzeichnet, als Zeichen für syntaktisch-logische Sachverhalte, Gesetze und Operationen. Ihre Bedeutung ist die Beziehung, deren Sinn in ihr zum Ausdruck kommt. Ihre Bedeutung ist durch die Ausführung dieser Operation und nicht erst durch die Bezeichnung anderer Entitäten bereits gegeben, wenn vielleicht auch nicht restlos augeschöpft.
Vergleichen wir aber die frühere mit dieser zweiten Bestimmung, so kommt es zu einer Stelle der Unvereinbarkeit, die darin besteht, daß die zweite nur dann stimmt, wenn von einem Teil des Sachverhalts abgesehen wird. Denn Pseudo-Objektsätze sind als Sätze bestimmt, die nur den Anschein von Objektsätzen haben und darum von Gegenständen handeln, die nicht Zeichen sind. Nun hatten wir zuvor die Perspektive aber als ein Beschreibungsmodell charakterisiert, mit der Anmerkung, daß Perspektive hinsichtlich seiner wahrnehmungstheoretischen Seite keine rein willkürliche Konvention ist, sondern eine Entdeckung "relevanter" Merkmale in der optisch präsenten gegenständlichen Welt zur Voraussetzung hat, also einer strikten Klassifizierung in Analogie zu den Carnapschen Objektsätzen nicht entspricht, der syntaktischen Dimension allein nicht angehört. Bei dem zeichnerischen Vollzug der Perspektive, sei es einer unterweisenden Demonstration, sei es einer demonstrierenden Analyse, sei es einer komplexen Anwendung, immer sind Teile des graphischen Gerüstes Teile von realen Gegenständen, bzw. derem Abbild, also zumindest in Teilen Zeichen im engeren Sinn. Mit ihnen sind Bedeutungen verbunden, wie Näher oder Entfernter, Größer oder Kleiner, d.h. Vorstellungen räumlicher Tiefe ist unabdingbar mit ihr verbunden. Ist dem aber so, dann läßt sich daraus schließen, daß sich eine syntaktische Dimension hier ohne nähere Bezeichnung der Objekt- und Interpretanten-Relation nicht bestimmen läßt oder diese Bestimmung ständig der Gefahr ausgesetzt bliebe, von dem wahrnehmenden Auge eines jeweiligen finalen Interpretanten14 abstrahiert und zu einem Gesetz stilisiert zu werden, dem jede Bedeutung auf fast mystisch-geheimnisvollem Weg zugesprochen werden könnte.
Bedeutung kommt also - und ich glaube das gilt heute genau noch so wie für das 15. Jh., wenn auch von anderer Quantität - dem perspektivischen Konstruktionsverfahren, wenn wir von der Zeit vor Alberti sprechen, einer vom Experiment bestimmten historischen Situation durch den versuchsweisen Gebrauch und nicht zuerst durch Bezeichnung zu.15
An dieser Stelle gilt es, sich klar zu machen, wie der Charakter des Zeichens "Perspektive" kategorial zu bestimmen ist.
"Perspektive ordnet ganzheitlich; Perspektive impliziert relationale Betrachtung ihrer Konstituenten zueinander und dieser zum Ganzen. Perspektive - schafft für jedes ihrer Subsysteme (auch Elementarzeichen) einen Interpretationszusammenhang, eine Zeichensituation."16
Sprachen wir bisher von Perspektive als Modell zur Beschreibung der Relationen optisch, gegenständlicher Gegebenheiten in der Welt und andererseits von der graphischen Notierung dieser Verfahrensregel (etwa der Maler und Architekten des 14., 15. und 16. Jh.) andererseits, so finden wir uns vor der historischen Tatsache, daß aus einem energetischen ein intellektuelles Zeichen17 durch Interpretation geworden ist, d.h. aus einer sporadisch aufweisbaren künstlerischen Praxis eine mathematisch interpretierte geometrische Gesetzmäßigkeit abstrahiert wurde. Energetische Zeichen basieren aber auf emotionalen Zeichen (eine Zweitheit ohne eine Erstheit ist nicht vorstellbar). Nun stehen wir aber auch hier vor der hinreichend bekannten Tatsache, daß menschliche Empfindungen und Eindrücke nur in der Form von Zweit- oder Drittheiten überliefert, und damit für uns kontrollierbar oder rekonstruierbar sind. Die Erstheit haben wir zu erschließen. Hierin zeigt sich die semiotische Kontrolle der bisherigen hermeneutischen Verfahren als überlegen, da der Begriff Erfindung (hier in Sachen Perspektive) aus gutem Grund durch den Begriff der Entdeckung ersetzt zu werden hat. Und daraus erwachsen Konsequenzen:
In römischer Zeit ist die Perspektive (hier: zentralperspektivische Konstruktion von Malerei auf Wandfeldern) keine Gewohnheitsregel und damit die Perspektive kategorial auch nicht als intellektuelles Zeichen zu bestimmen, sondern als energetische Zeichen - jedenfalls solange der Nachweis nicht gelingt, daß die einschlägigen Vitruvstellen (Zehn Bücher über Architektur, 1. 2, 2 und VII, Proemium) tatsächlich nur eine zentralperspektivische Auslegung zulassen und in der zeitgenössischen Malerei die Zentralperspektive als ausschließliches, gewohnheitsmäßiges Darstellungsprinzip ausweisbar wäre.18
Bislang scheitert das, so daß die zentralperspektivisch konstruierten Malereien auf Grund dieses Sachverhalts als von einer "Schule" produziert charakterisiert worden sind. Anders im 15. Jahrhundert. Die aus der Schicht theorieferner Handwerker entstammenden Künstler entdecken in ihrer Praxis einen Aspekt, der dem Charakter der "ersten Vermutung" entwächst und zu einer Theoriebildung führte. Die entstehenden zentralperspektivischen Konstruktionen in ihren unterscheidbaren Varianten haben ihr Gemeinsames nicht in einer supponierbaren "Abhängigkeit" voneinander, die sich auf das gängige historische Erklärungsprinzip des "Einflusses" befriedigend reduzieren ließe. Der "Einfluß" setzte doch wiederum ein gemeinsames Drittes voraus: Die Bedingungen eben diesen und nicht irgendwelchen der notwendigerweise vorhandenen anderen "Einflüssen" (z.B. Traditionen) treu zu bleiben, sondern nach diesen - von den historischen Folgen her betrachtet - neuartigen Vermutungen zu greifen. Dieses "gemeinsame Dritte" liegt in einer Gemeinsamkeit der Bedürfnisse nach Verbildlichung von Erfahrungen, die mit den überkommenen Bildformen und -formeln nicht mehr hinreichend zum Ausdruck gebracht werden konnten. Deshalb entstanden die Versuche in einem relativ kurzen historischen Zeitraum etwa einer Generation (1435 - 1493) und in einem geographisch eng umrissenen Raum, dessen ökonomische und politische Situation gleichmäßig anders war, als im übrigen Europa.
Daß das einzelne Künstlersubjekt transzendierende und damit "öffentliche" Bedürfnis nach theoretischer Begründung stellt in seinem Ergebnis die Ablösung aus der gemeinsamen Einbindung in die alte Sozialordnung der Zünfte in eine neue institutioneile soziale Einbindung in statu nascendi dar. Zugleich liegt in dem Ausweis wissenschaftlichen Kriterien genügender Tätigkeit der nach wie vor handwerklich Tätigen ein subjektiv empfundener, privat erfahrener Akt von sozialer Nobilitierung vor, dessen Erfolg nicht dem einzelnen künstlerischen Einfall (concetto) angelastet werden kann, sondern darin nur zu allererst konkrete Gestalt gewinnt. Die spätere Folge dieses Vorgangs, das alleinige und herrschende Prinzip der Zentralperspektive, genügt allen Merkmalen, die dem intellektuellen Zeichen und dem logischen Interpretanten im Peirce'schen Sinn zukommen müssen: "Kategorial gekennzeichnet als Drittheit der Drittheit, nehmen die intellektuellen Zeichen in dem infiniten Interpretationsprozeß insofern eine Sonderstellung ein, als die ihnen korrespondierenden Gewohnheiten keine tatsächlichen Ereignisse involvieren, sondern als Gewohnheitsregeln erscheinen".19 Gewohnheitsregeln (habits), die Folgen (effects) von Gefühlen und einzelnen körperlichen und mentalen Anstrengungen sind, müssen sich als Folgen von Folgen bei der vollständigen Rekonstruktion der Semiose aufweisen lassen.20
Die Wahrnehmung ist ein Prozeß, der einer zeitlichen Abfolge bedarf, allein schon, weil wir nahe und fern liegende Dinge nicht gleichzeitig scharf sehen können, im Gegensatz zu Darstellungen/Abbildungen in der Malerei und Photographie. D.h. die tatsächlich diachronisch gesehenen Einzelheiten werden durch einen nachfolgenden Interpretationsvorgang, dessen Prozedur in der Auswahl relevanter Elemente besteht, zu einem synchronischen Anschauungsbild verdichtet. Dieses Anschauungsbild läßt sich von der vorgegebenen Anschauung analytisch trennen und als allgemeine Regel formulieren. Somit ist der Übergang vom Wahrnehmungsakt, dem Perzept, zur geometrisch-regelhaften Konstruktion ein Übergang von der Diachronie der Wahrnehmung zur Synchronie der Darstellung.
Damit aber kehren wir wieder auf die Frage zurück, wie eine "symbolgeleitete" menschliche Handlung, die ja diesem Prozeß unterstellt werden muß, nicht nur bei einem aktuellen Einsatz des sattsam bekannten Konstruktionsverfahrens "Perspektive" ins Spiel kommt, sondern wie wir uns die Genese dieser Entdeckung begreiflich machen können.
1. Spielt die Sprache (oder sprachliche Terme) eine Rolle, wenn die Sinnesdaten des Perzepts zu einem Wahrnehmungsurteil, nämlich der synchronischen Geordnetheit einer Bildkomposition niedergelegt werden?
2. Die Tatsache, daß nicht die Dinge primär in den Blick fallen, sondern die Relationen zwischen ihnen "Bedeutung" implizieren, so wie die Größenrelationen historisch früher die Bedeutungshierarchie zum Ausdruck gebracht hatten?
Können wir hier von einer bildnerischen Analogie sprechen, die sich als ein universalisierbares Instrument erweist, mit dem die "Ordnung der Dinge" auf einen innerweltlichen Maßstab bezogen wird, der als Orientierungssystem aus einer spezifischen historischen Situation entspringt, die zugleich ein ethisches und ökonomisches Orientierungssystem hervorbrachte, daß Sombart "den Geist des modernen Wirtschaftsmenschen" und Max Weber vor ihm als Zusammenhang zwischen protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus vorgestellt hatte.
Ist nicht der universale Tauschwert des Geldes ein analoges und nicht zufällig gleichzeitig eingesetztes Instrument zur Ausdehnung über diese Welt, in dem auch das Geld als eine synchronische Repräsentation der in dem Produkt versammelten diachronischen aufgewendeten Arbeit begriffen werden kann und muß?
Auch dieses Instrument des neuen Geldverkehrs ist eine Entdeckung. Seine universale Anwendung und die erfolgreiche Durchsetzung dieser "Bedeutung" ist keine naturwüchsige Angelegenheit, sondern eine Interpretationsleistung in einem infiniten Prozeß, zu dessen Aufrechterhaltung individuelle und kollektive körperliche und mentale Anstrengungen jeweils wieder gemacht werden müssen. Und die Antwort auf die Frage nach der historischen Genese der Bedeutungshaltigkeit der Perspektive wäre demnach dort zu suchen, wo vor der theoretischen Formulierung durch Alberti in einzelnen Bildern der Versuch unternommen wurde, in der Anwendung dieses Verfahrens einen Wert auszudifferenzieren, in dem die Welt als eine so und so geordnete dargestellt wurde, also gegen eine andere Bildordnung als Repräsentation einer andersartigen Weltordnung vorgelegen hatte. Wir haben nach den Urhebern dieser "neuen" Weltordnung zu fragen und zu fragen, wie diese "neue" Ordnung begründet und letztlich durchgesetzt wurde, welchen innerweltlichen Zwecken sie diente. Die Perspektive ist "Weitung des Gedankenraums über den Augenblick hinaus" (Norbert Elias), die eine lange Handlungskette möglich machte, die wiederum mit einem Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle und einem starken Rationalisierungsschub verbunden war, die Norbert Elias als das Movens der zivilisatorischen Entwicklung darstellte. Ihr unmittelbarer Ausdruck in der zeitgenössischen Kunsttheorie ist eine verinnerlichte Affektkontrolle und die Entwicklung einer experimentellen Einstellung in der neuzeitlichen Wissenschaft, die neuer sinnlicher und intellektueller Vorbedingungen bedurfte. Die Handlungstendenz, die aus dem exemplarischen Zusammenwirken von erfinderischer Tätigkeit des höheren Handwerks und den auf Rationalität begründeten Verfahrensweisen der wissenschaftlich Tätigen resultiert, läßt sich an der Perspektive exemplarisch aufweisen.
Zugleich entstehen auch hier diejenigen Schwierigkeiten, die aus der politischen Privilegierung einer möglichen Form der Erkenntnis von Natur erwachsen sind, die sich in der institutionalisierten Form des 17. Jh. und folgender Jahrhunderte als Ausklammerung derjenigen Aspekte bemerkbar machen, die etwa Alberti noch mit im Blick hatte, Ansätze, die soziale und politische Dimensionen der Perspektive umfaßten.21 Eingeholt ist diese ausgeklammerte Mitbedeutung bemerkenswerterweise am Ende der "wissenschaftlichen Perspektive", nämlich in der 80er Jahren der 19. Jahrhunderts zu verzeichnen, als Cézanne in seinen Bildern die Zentralperspektive systematisch aufgibt. Zugleich aber war der ausgeklammerte Bedeutungsraum der Perspektive in seiner vollen Tragweite offenkundig, den Günter Bandmann in seinen subjektiven und seinen objektiven, d.h. öffentlich wirksamen Aspekten mit folgenden Überlegungen zusammenfaßt:
"Und wenn wir auch, wiederum angesichts der Weltkunst gelernt haben, daß die Zentralperspektive nur eine Form räumlicher Darstellung ist, sie durch nichts ausgezeichnet neben anderen Perspektivformen wie der Parallel- und Körperperspektive anderer Kulturen steht, daß also die Zentralperspektive eher als eine spezifisch abendländische stilistische Anschauungsform zu verstehen ist, so ist doch die Vorstellung von der besonderen Richtigkeit der Zentralperspektive - des Instruments, das der großen Wahrheit fast habhaft wird - zu einer Stütze für das Recht geworden, mit dem die Europäer sich einst zu den Herren über die übrige Welt machen zu können glaubten."22 Mit dieser Sicht des Problems - das bei Panofsky völlig ausgeklammert bleibt - ist von einem anderen Ende der Entwicklung her an den Wirkungen und Folgen des im 15. Jahrhundert beginnenden Prozesses deutlich gemacht, daß nicht nur bei der Genese der wissenschaftlichen Perspektive, sondern in einem fortdauernden kollektiven Prozeß körperlicher und mentaler Anstrengungen diese Bedeutungsdimension der Perspektive kontinuierlich stets durch einen erst versuchsweisen, letztlich aber erschreckend erfolgreichen Gebrauch und nicht zuerst durch Benennung zukam: Die neue Ordnung also nicht die bildliche Ordnung nur betraf, sondern eine politisch durchgesetzte innerweltliche Ordnung bezeichnet.
Peter Gerlach