VI. Das Christusbild in der Kunst des 19. Jh.



A. Gestaltikonogr.:
Die Problematik des Christusbildes bis ins 2. Drittel des 19. Jahrhunderts betraf sowohl im katholischen als auch im evangelischen Bereich nicht primär die Gestaltung neuer Bildthemen, sondern lag in dem Bemühen um die Formulierung der von philosophisch-theologischen Bestimmungen her völlig strittig gewordenen Christusgestalt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts verlor das Christusbild an Darstellungswürdigkeit und lebte in einer auf das italienische Barock (G. Heinz, Carlo Dolci. Studien zur religiösen Malerei im 17. Jh.: JKS [1960], S. 197-234, Abb. 213-5) bezogenen sentimental-süßlichen Formulierung der Christusdarstellungen fort, die in der Folgezeit besonders in der Trivialkunst (Lit. 11 Abb. 3-5) bis ins 20. Jahrhundert tradiert wurde. An den künstlerisch relevanten Darstellung läßt sich verfolgen, daß die Themenwahl durch Stillage und Stilrückgriffe bedingt blieb. Eine weite Verbreitung während des ganzen Jahrhunderts fand einzig die Herz-Jesu-Darstellung (Herz-Jesu-Fest 1765 von Papst Clemens XIII genehmigt; Darstellungen: Pompeo Battoni, Herz Jesu, 1760, Rom Il Gesù - Pio Pecchiai, Il Gesù di Roma [Rom 1952], S. 274, Taf. 31; Pompeo Battoni, Die vier Weltteile beten das Herz Jesu an, Lissabon Karmeliterinnenkirche; zahlreiche Darstellungen der Folgezeit abgebildet in: Christliche Kunstblätter für Kirche, Schule und Haus, Bd. 1 ss [Stuttgart 1858 ss]; Christliche Kunst passim; vom Ende des 19. Jahrhunderts: A. Dossena, Sacro Cuore, 1923, Rom, Il Gesù; Lit. 2, S. 322).

B. Kompositionsschemata uund Entwicklung:
Exemplarische Kompositionsschemata werden mit dem Inhalt identisch aufgefaßt und in stilbedingter Rezeption für die Darstellung christologischer Themen mit diesen zugleich übernommen. In ihnen spiegelt sich ein von kosmischen bis mystisch-pantheistischen Vorstellungen bestimmtes Christusverständnis, ohne daß das idealisierte Heiland-Bild der Nazarener und Präraffaeliten eine Wandlung erfuhr: F. Overbeck, Einzug Christi in Jerusalem, 1809-24, zerstört, ehemals Lübeck Marienkirche - G. Lindtke, Overbecks Einzug ... Zur Geschichte eines Bildes: St. Marien Jahrbuch (1961) 48-61 mit Abb.; K. F. Schinkel, Christusdenkmal, 1815, Entwurf für Friedenskirche in Berlin; P. Cornelius, Jüngstes Gericht, 1839, München St. Ludwig; H. Hunt, Das Licht der Welt, 1854, Oxford Keble College - Lit. 8 Abb. 67; zu Alexander Ivanovs Christus, 1833-46: M. V. Alpatov, Aleksander Andreevic Ivanova (1806-1858). Zisn i tvorcestvo = Russkie Hudozniki Monogr. (Mk 1956) I 232-285 Abb. p. 240, 243, 245; K. Eberhard, Lindner-Altar, 1835-45, Basel St.-Klara-Spital; K. F. Schinkel, Christus, Entwurf 1829-35 für Potsdam, Nicolaikirche, Abb. 32. Dargestellt wird gemäß der christologischen Vorstellung des Idealismus (Hegel) Christus als Mittler zwischen Welt und Transzendentem.
Aus dem gleichen Vorstellungsbereich erwuchsen die Bemühungen um die Gestaltung des klassizistischen Christusporträts (E. Hempel, Christustypen, Reallexikon der Deutschen Kunst, Bd. III 732-44), die nicht die Erlösungstat und damit das "historische" Leiden Christi zu erfassen trachteten; so bei Johann Heinrich von Danneckers Heiland, 1818-22 (Stuttgart Hospitalkirche, Marmorausführung 1822, Auftrag Maria Feodorownas für Zarskoe Selo, 2. Fassung 1825-32 für Thurn-und-Taxis-Grabkappelle, Regensburg, Ausführung von Th. Wagner. Abhängigkeit vom 16. Jahrhundert nicht nur in Haltung und Gebärde, sondern auch in der Konzeption einer für den Kirchenraum bestimmten Christusstatue, wie auch bei Schinkel 1815 und Thor-waldsen 1822). Anregungen erhielt Dannecker und andere von Galls Schädellehre. Die Lösungen, entsprechend der Stiche in Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775-78; vgl. Ch. Steinbrucker, Lavaters Physio-gnomische Fragmente im Verhältnis zur bildenden Kunst [Braunschweig 1915] 159-64 Abb. 45s), erweisen sich den Renaissance-Abgüssen des Bajazid-Smaragdes (byzantinisch, 10. Jh.; G. F. Hill, The Medallic Portraits of Christ [Oxford 1920]) eng verwandt (vgl. Rembrandt; H. M. Rotermund, Wandlung des Christustypus bei Rembrandt: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 18 [1956] 197-237, bes. 208 ss Lit. 5 Abb. 13). Die Haartracht der Nazarener war eine Anspielung sowohl auf das Christus-Porträt als auch auf Raffael- und Dürer-Selbstporträts. Wenig später entstand der wirkungskräftigere Christus Bertel Thorwaldsens (Lit. 8 Abb. 64), 1822-29 (Kopenhagen Frauenkirche, Ausführung von Pietro Tenerani, Aufstellung um 1840, in zahlreichen Abgüssen verbreitet, Prototyp u.a. der Herz-Jesu-Statuen des 19. Jahrhunderts, wie Danneckers Christus nach einem Bibelzitat konzipiert; vgl. Lit. 8, 45 u. Anm. 14).
Damit war eine für das weitere 19. Jahrhundert verbindliche Formulierung des Christusbildes erreicht, der jedes Element unmittelbarer Weltbezogenheit fremd blieb. In den mystisch-symbolischen, künstlerisch sehr eigenwilligen Lösungen W. Blankes (The Resurrection, 1795; Lit. 5 Abb. 14) und Benjamin Robert Haydons (Christ's Triumphant Entry to Jerusalem, 1820) findet sich dennoch der gleiche Kopftyp wieder. Für die katholische Heilandsverehrung behält das Christusbild der Nazarener (Friederich Overbeck und Peter Cornelius) besonders durch die Bibelillustrationen (Julius Schnorr von Carolsfeld, 1851-59, für deutsche Protestanten; Ludwig Richter, 1855 - vgl. J. F. Hoff, A. Ludwig Richter, Maler u. Radierer ... Verzeichnis seines gesamten graphischen Werkes, hg. von K. Budde [Frankfurt 19222] 246s; selbst bei Gustave Doré, 1865) seine Wirksamkeit fand eine weite Verbreitung in der Malerei gegen Ende des 19. Jahrhunderts (E. Dreger, H. Richter, H. Hofmann u.a.; Lit. 2). Abgesehen von der künstlerischen Wirksamkeit der Christusbilder des frühen 19. Jahrhunderts, bleiben weitere skulpierte Christusbilder zu erwähnen, die weit weniger diesem Typ verpflichtet sind: Landolin Ohnmacht, Christus am Kreuz, 1815-16, Karlsruhe Hofkirche; Johann Gottfried Schadow, Grabmal C. von Stourdza, 1816, Berlin Dorotheenstädtischer Friedhof; Ernst Rietschel, Pietä, 1847, Potsdam Friedenskirche. Ohne Wirkung blieben andere Wiederholungen, die wie Danneckers Christus an einem entlegenen Ort zur Aufstellung kamen: F. Pettrich, Christuskind, auf dem Kreuz schlafend, 1820, Schönlinde (CSSR) Pfarrkirche; Pietro Tenerani, Christus am Kreuz, 1923, Pisa San Stefano dei Cavalieri, in Silber getrieben von G. Belli; Antonio Canova, Pietä, 1818-21, Possagno; N. J. Byström, Christus, 1825, Linköping Dom.
Gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich in der Skulptur im Gegensatz zur Malerei (Th. Heaphys Kopien der hl. Mandylien, 1860, zeitigen keine Auswirkungen; °Felicetti IkM Abb. 9 a u. b) Einflüsse geltend, die auf ein ausdrucksreicheres Christusbild zielen (Francois Rüde, Die Taufe Christi, 1831-41, Paris Ste-Madeleine; ders., Christ en Croix, 1854-55, Abb. 33;, Louvre: Einfluß Sluters. Dagegen Th. Chasseriau, Kreuzabnahme, um 1850, St-Etien-ne-sur-Loire Pfarrkirche; Lit. 7 Abb. 66. In Deutschland sind zu nennen: Ferdinand von Miller II, Christus auf dem Pferd, 1910, München St. Anna, Abb. 34; A. Hudler, Ecce Homo, 1904-05, Strehlen [bei Dresden] Christuskirche). Ohne Wirkung auf die kirchliche Kunst blieben die Darstellungen sozialkritisch-realistischen Inhalts im zeitgenössischen Milieu (K. F. H. von Uhde, Die Jünger von Emmaus, 1885, Stadel; ders., Christus bei einer Bauernfamilie, 1885, Paris Musée du Luxembourg; Anselm Feuerbach, Pietà , 1862, München, Schackgalerie), in denen ein verhärmtes, strenges Christusbild, der "Mitleidende", dargestellt wurde. Das offizielle hieratische Christusbild der Beuroner Schule (1869, Desiderius Lenz [1832-1928]; vgl. Lit. 2, 56-8) erweist sich als eine in die Stillage des späten 19. Jahrhunderts transponierte Fortsetzung des nazarenischen Typus unter orientalisierenden Vorzeichen (strenge Symmetrie und idealhistorisches Kolorit). Obwohl sich Wirkungen gesellschaftshistorischer Ereignisse (Revolution 1848) auf die Themenwahl in den Darstellungen verfolgen lassen (Gustave Dorè, 1866), sind in den populären Devotionalien (Lit. 11 Abb. 3) kaum Auswirkungen der seit 1850/55 (Francois Rude u. K. F. H. von Uhde) unternommenen Versuche zu verspüren, im Christusbild nicht den traditionellen Heiland, sondern einen Christus "in der Welt" darzustellen (von Wichtigkeit Vincenz van Goghs Kopien nach Rembrandt und Delacroix, 1890 - Lit. 8 Taf. 8, 3; Gauguins Gelber Christus, 1889). Erst im 2. Jahrzehnt des 20. Jh. fand ein realistisches Christusbild, häufig im Zusammenhang zeitbewegender Ereignisse, Eingang in die religiöse Kunst, verblieb aber weiterhin offiziell geächtet (Franz Marc, 1912 - Lit. 9 Tf. 43; Ernst Barlach, Christus und Thomas, 1928, Hamburg Privat-Sammlung - Lit. 8 Abb. 69; George Grosz, Christus mit der Gasmaske, 1928, New York Privat-Sammlung; Max Beckmann, Christus und die Ehebrecherin, 1917; dazu ferner Lit. 2, 78-93; Lit. 8, 46-9; weiterhin Lit. 6 u. 7).
Die Moderne konnte in verstärktem Maße erst nach dem 2. Weltkrieg endgültig Eingang in die kirchliche Kunst finden und verdrängte dort mehr und mehr die Nachwirkungen der Kunst des 19. Jh. (z.B. Gerhard Marcks).

C. Literatur:
1. G. Lasch, Das Christusbild in der Mitte des 19. Jh.: Zeitschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 9 (1904) 348-54 375-83;
2. H. Priebe, Das Christusbild in der Kunst des 19. u. 20. Jh. (B-Grunewald 1932)
3. A. Thomas, Die Darstellung Christi in der Kelter. Eine theologische und kulturhistorische Studie (= Forsch, zur Volkskunde, hg. von G. Schreiber, 20/21) (Du 1936)
4. F. Zoepfl, Das schlafende Jesuskind mit dem Totenkopf und Leidenswerkzeugen: Volk und Volks-tum. Jahrbuch für Völkerkunde 1 (1936) 147-64
5. E. Kitzinger - E. Senior, Portraits of Christ (Harmondsworth 1940)
6. Reallexikon der Deutschen Kunst, Bd. III, Sp. 629s (Lit.)
7. Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Sp. 1795-1797 (E. Dink-ler - von Schubert) (Lit.)
8. W. Schöne: "Gottesbild 7-56;
9. Anton Legner, Der gute Hirte (Düsseldorf 1959)
10. K. Forster (Hg.), Christus und die HU. im künstlerischen Ausdruck der Gegenwart (= Studien und Her. der katholische Akadademie Bayern Hest 22) (Würzburg 1963)
11. Ch. Pieske, Katalog der lithographischen Anstalt E. G. May: Anzeiger des Germanischen National Museums 1967 (Nürnberg 1967) 132-162.

Peter Gerlach


Abbildungen
32 Karl Friedrich Schinkel, Entwurf für ein Apsisgemälde in der Nicolaikirche zu Potsdam, 1829-35. 33 Francois Rude, Christ en Croix, Louvre, 1854-55. 34 Ferdinand von Miller II, Christus als Sieger (Reiter der Apokalypse"), 1910, München St. Anna.



last update 07. 2008
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